„…und saufen Schnaps“
Wie viele andere Berufsgruppen aus dem Arbeitermilieu blicken Bergleute auf eine stolze Geschichte auch des Trinkens zurück. Aus einer durch heutige Normvorstellungen geprägten Perspektive heraus erscheinen das Trinkverhalten, der massive Konsum an Branntwein und die daraus resultierende Trunkenheit im Allgemeinen als ein Anzeichen für sittlichen Verfall und Verelendung der Arbeiterschaft. Diese Perspektive ist stark durch Untersuchungen und Deutungsmuster des Trinkens durch Temperenz- und Abstinenzbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beeinflusst worden. Die Unterschiede bei der Getränkewahl zwischen Arbeiter:innen- und dem bürgerlichen Milieu verführten zu der Annahme, der „Branntweinteufel“ sei für das Elend der Arbeiterschaft verantwortlich. Und nicht nur der individuelle Niedergang sei ein Ergebnis des Schnapssaufens, alle sozialen Probleme wurden auf das Trinken zurückgeführt. Wäre man nur in der Lage gewesen, den Arbeiter:innen das Trinken abzugewöhnen, oder es mindestens in einen bürgerlichen Rahmen zu setzen, so würden sich Massenarmut, unzureichende Ernährung, Kriminalität und gesellschaftliche Verrohung von selbst erledigen.
Friedrich Engels (1820-1895) schlussfolgerte aus der Beobachtung englischer Arbeiter:innen einen entgegengesetzten Standpunkt. Er sah in der bürgerlichen Deutung eine Ursache-Wirkung-Umkehr. Nicht der Schnaps treibe die Menschen in die Armut, die Armut treibe die Menschen zur Flasche, so Engels. Der Konsum sei eine Reaktion auf die brutalen materiellen und kulturellen Zustände in den Arbeitervierteln.
Der Genuss alkoholischer Getränke kann aber nicht auf das rein narkotische Trinken reduziert werden. Die psychologische Selbstbetäubung ermöglichte den Trinker:innen eine kurzfristige Flucht aus einer Realität mit Problemen, die mit konventionellen Mitteln nicht lösbar schienen. Menschen, die Alkohol vorwiegend zu diesem Zweck konsumierten, wurden als „Säufer“ betrachtet und verloren in einer Spirale aus Sucht und Flucht vor der Realität ihre Arbeit, Familie und andere soziale Bindungen.
Doch Alkohol war nicht nur ein Gift für die Arbeiterschaft, er erfüllte auch einen instrumentalen Zweck: Mit alkoholischen Getränken konnten Durst und Hungergefühl gestillt oder unterdrückt werden. Alkohol konnte als Nahrungszusatz genutzt werden, um den Körper mit Energie zu versorgen oder um eintöniges Essen geschmacklich aufzuwerten – bisweilen überhaupt genießbar zu machen. Branntwein gehörte für die aus dem Sauerland, dem Münsterland, aus Ostwestfalen oder aus den östlichen preußischen Provinzen in das Ruhrgebiet zugewanderten, zumeist männlichen Arbeiter zur Verpflegung und Entlohnung bei harter körperlicher Arbeit wie selbstverständlich dazu. Der Schluck aus der Schnapsflasche konnte müden Arbeitern eine Illusion von Kraft vermitteln und sie zu neuen Anstrengungen antreiben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Konsum alkoholischer Getränke auch in der Freizeit der meist jungen Männer eine wichtige Rolle gespielt hat.
Mit der Verbesserung der Ernährungssituation für Arbeiter:innen ging eine Veränderung des Trinkverhaltens einher. Das instrumentale Trinken wurde nach und nach durch soziales Trinken abgelöst und verlagerte den Genuss aus der Arbeitswelt in die immer mehr vorhandene Freizeit. Unterstützend wirkten hierbei Verbote des Schnapstrinkens am Arbeitsplatz. Alkoholgenuss hatte nun das Potenzial zur Statusvergewisserung, denn er fand in einem sozialen Raum statt. Gaststätten, Wirtshäuser, Kneipen und Schnapskasinos boten den Rahmen für ein geselliges Miteinander. Hierbei darf die Funktion dieser öffentlichen Orte für die Solidarisierung und Sozialisierung der Menschen nicht unterschätzt werden, boten doch gerade sie den benötigten Raum für soziale Kontakte, Vereinstätigkeiten und politische Treffen.
Die Industrialisierung des Brauereiwesens und der Umstieg auf eine untergärige Brauart machten das Bier lagerfähig, schmackhafter und alkoholhaltiger. Für den Konsum war aber eine dichte Infrastruktur nötig, da man Bier üblicherweise in Kneipen trank. In den schnell expandierenden Industriestädten des Ruhrgebiets bestand bis in das 20. Jahrhundert hinein ein Mangel an gastronomischer Infrastruktur. Dieser Mangel wurde bewusst durch Zurückhaltung von Schanklizenzen aufrechterhalten, um sowohl die Trunksucht unter den Arbeiter:innen zu bekämpfen als auch politischen Bewegungen den Raum zum Austausch vorzuenthalten. Weitere fiskalische Eingriffe, wie die Branntweinsteuer von 1887, welche hochprozentige Getränke mit 100 % zusätzlich besteuerte, oder Polizeiverordnungen, die den Verkauf von Schnaps vor 8 Uhr untersagten, unterstützten den Übergang von Schnaps zu Bier als Alkoholgetränk der Wahl. In der Zeit von 1900 bis 1913 sank der jährliche Alkoholkonsum von 9,7 Liter reinen Alkohols pro Kopf auf 7,3 Liter, die Menge an konsumiertem Branntwein fiel von 4,4 auf 2,8 Liter pro Jahr. Bier dominierte den Alkoholmarkt, aber auch alkoholfreie Getränke fanden immer mehr den Zugang zu Gaststätten und durstigen Kehlen der Bergleute.
Trotz des Wandels in den Trinkgewohnheiten hin zum Bier lassen sich Schnapszuteilungen an Bergleute sowohl in der Forschungsliteratur als auch in zahlreichen Beständen des Bergbau-Archivs Bochum für verschiedene Zeiträume nachweisen. Um 1904 erhielten Bergleute der Kleinzechen in Hattingen ein Tagesdeputat von 0,25 Liter Schnaps, das sie in einem Schnapskasino in Gesellschaft zu sich nahmen. Mit einem solchen Tageskonsum lagen sie weit oberhalb des Durchschnitts.
Im Bestand montan.dok/BBA 175: Sophia-Jacoba GmbH, Hückelhoven (Rheinland), lässt sich die Ausgabe von Trinkbranntwein an Belegschaftsmitglieder in den Jahren 1947 und 1949 auf monatlich 4.200 bis 4.700 Flaschen bestimmen. Hierbei wurden je nach Gruppierung zwischen zwei und einer halben Flasche ausgegeben. Auch wurde der zu erwartende „Schwund“ an geliefertem Branntwein akribisch zwischen Industrieverband Bergbau, North German Coal Control (NGCC), Grubenverwaltung, Betriebsvertretung sowie für Betriebszwecke aufgeteilt.
Eine gewisse Prominenz kommt dem so genannten akzisefreien Trinkbranntwein für Bergleute zu, von dem mehrere Flaschen in den Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) überliefert sind. Hierbei handelt es sich nicht um eine konkrete Sorte Destillat, sondern eher allgemein um Trinkbranntwein, der als „Flüssigprämie“ speziell an Bergleute bei der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut ausgegeben wurde. Je nach Erfüllung des Plans konnten unter Tage Beschäftigte der Wismut mit sechs Litern Schnaps pro Monat rechnen. Mit solchen Zuteilungen ließen sich die Arbeiter:innen bei Laune halten, was aus Sicht der kommunistischen Staatsführung in einer erhöhten Leistungsfähigkeit hätte münden sollen. Und der „Wismutschnaps“ erfüllte eine weitere Funktion: In der vorherrschenden Mangelwirtschaft der DDR fungierte der verbilligte Alkohol als Tausch- oder Schmiermittel, Dienstleistungen konnten damit beschleunigt, Mangelwaren ertauscht werden.
Bildsprachlich weit entfernt von „Kumpeltod“ und „Wismutfusel“ war hingegen der „Carbognac“, eine werbend scherzhafte Erfindung der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmensverbands Ruhrbergbau. Hierbei handelte es sich vorgeblich um ein Produkt deutscher Kohlenforscher, die es geschafft hatten, durch Kohlenhydrierung ein alkoholisches Destillat herzustellen. Offenbar hat die Presseabteilung der Eschweiler Bergwerks-Verein AG den „Carbognac“ sowohl pflichtbewusst als auch mit Freude ausgiebig verkostet.
In den Beständen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, Leibniz-Forschungsmuseum für Georessourcen, wird die kulturelle Überlieferung des deutschen Bergbaus gesammelt, archiviert, beforscht und Interessierten zugänglich gemacht. Neben Besitzurkunden, Verwaltungsakten oder Doppelwalzenschrämmaschinen finden sich auch Flaschen mit „Grubenfusel“, Biergläser mit bergbaulichen Motiven, Schnapsmarken oder der Schriftwechsel zwischen zwei belustigten Presseabteilungen. Diese Hinterlassenschaften des Bergbaus bilden wichtige Quellen der Sozial- und Alltagsgeschichte in den Montanregionen.
01. Januar 2025 (Rodion Lischnewski, B.A.)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 16/449, 80/450, 175/349, 175/351, 175/362.
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Museale Sammlungen 030005788001, 030005989001, 030006284001, 030006463001, 030006908001, 030006995001.
Blum, Astrid/Laube, Robert: Prost Hattingen! Die Stadt, die Hütte und ihre Trinkkultur, Essen 2016.
Brüggemeier, Franz-Josef: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1919, München 1983.
Haase, Baldur: Die Schnapsampel brennt, Gera 2007.
Krieger, Christof: „Saufen für den Führer!“. Im Dritten Reich wurde die Rhein-Ruhr-Region zum Geburtsort der größten Weinpropaganda-Kampagne der deutschen Geschichte, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 01/2020, S. 50-53.
Roberts, James S.: Der Alkoholkonsum deutscher Arbeiter im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 6, 1980, H. 2, S. 220-242.
Tappe, Heinrich: Vom Schnaps zum Bier. Anmerkungen zum Wandel des Trinkverhaltens der Arbeiterschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 02/2014, S. 16-21.
Wanda: Ich will Schnaps, Amore, Problembär Records, Wien 2014.
Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=95418; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=95422; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=88522; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=153275; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=208135; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=218645; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=227436; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=228748; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=287417; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=148632 und museum-digital. Unter: https://westfalen.museum-digital.de/object/16816; https://westfalen.museum-digital.de/object/15591; https://westfalen.museum-digital.de/object/16474; https://westfalen.museum-digital.de/object/16474; https://westfalen.museum-digital.de/object/17502; https://westfalen.museum-digital.de/object/17560 (Eingesehen am 10.12.2024).