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Lieder- und Gebetbuch eines Bergmanns

„Wohl gebetet! / Denn zur Tiefe willst du fahren, / Gott allein kann dich bewahren, / Darum schaue erst hinauf! / Hol' vom Herrn dir ein Glück auf!“ So lautet die erste Strophe eines Gebets bzw. Lieds in einem kleinen handschriftlich verfassten Gebetbuch eines Bergmanns der Zeche Hannover aus dem Jahr 1850. Es ist ein Zeugnis aus einer Zeit, als Gebet und Gesang ein Teil der Arbeitswelt im Ruhrbergbau waren und nicht nur staatlicherseits verordnet, sondern auch vonseiten der Zechenbetreiber durchaus gefördert wurden.

Das schmale Büchlein umfasst lediglich elf mit religiösen Texten beschriebene Seiten (montan.dok/BBA 20/1143). Es ist heute Teil des Archivbestands montan.dok/BBA 20: Fried. Krupp Bergwerke AG, Essen, der im Montanhistorischen Dokumentationszentrum des Deutschen Bergbau-Museums Bochum im Bereich Bergbau-Archiv Bochum bewahrt wird. Leider liegt das Manuskript nur in einer Kopie vor, die als Buch gebunden ist. Auf dem Deckblatt befindet sich der maschinenschriftliche Text: „Lieder- und Gebetbuch eines Bergmanns der Zeche Hannover aus dem Jahr 1850“, darunter ist der handschriftlichen Eintrag „Von Herrn Keinhorst am 18/I 1939 erhalten“ zu lesen. Hermann Keinhorst war in der Kruppschen Verwaltung der Zechen Hannover und Hannibal ab 1905 mit Unterbrechungen tätig. Er verfasste verschiedene Schriften zu den Bergwerken. 

 

Insgesamt 13 Gebete bzw. Lieder befinden sich in der Zusammenstellung. Die Texte schöpfen allesamt aus bekannter Vorlage, wenn auch nur vier Gebete bzw. Lieder in Gänze abgeschrieben worden sind. Bei den anderen wurden nur einzelne Strophen aufgeschrieben, bei zweien jeweils unterbrochen von weiteren Liedern. Da sämtliche Texte Teil der 1838 und 1840 in zweiter Auflage herausgegebenen Liedersammlung der Gewerkschaft der Zeche Wiesche in Mülheim an der Ruhr mit dem Titel „Grubenklänge“ sind, liegt die Überlegung nahe, dass diese Sammlung die direkte Vorlage bildete. Die „Grubenklänge“ waren mit dem hehren Ziel herausgegeben worden, mittels passenden Gesangs ein Berufsgefühl und eine Berufstreue unter den Bergleuten an der Ruhr zu schaffen und zu pflegen. Die „Vorerinnerung“ informiert darüber ausführlich. Man vermisste im Ruhrtal die „schöne Eigentümlichkeit des bergmännischen Standes“ (S. VII) in anderen Bergrevieren und mokierte sich über die „unedlen Lieder“ (S. VI), die die Bergleute dort aufgrund von Unkenntnis sangen. „Blätter und Blüthen, am freundlichen Ruhrufer gelesen und mit den poetischen Erzeugnissen anderer Bergreviere zu einem Kranze gewunden […]“ (S. V). So wird die Zusammenstellung der Sammlung beschrieben, deren erste 3000 Stück so schnell vergriffen waren, dass bald die zweite Auflage folgte. Auch im montan.dok gibt es noch einige Exemplare der „Grubenklänge“.

 

Die Lieder sollten laut Vorwort vor allem bei bergmännischen Festen und Aufzügen genutzt werden. Aber auch für den Arbeitsalltag waren entsprechende Texte vorhanden, die gleichfalls Teil des vorliegenden Gesangs- und Gebetbuchs sind. So beginnt die Sammlung mit dem nach den „Grubenklängen“ als „Gebet nach der Schicht“ betitelten Text. Auf der zweiten Seite folgt der Text „Dem einfahrenden Knappen“, dem das Zitat am Anfang entlehnt ist. Die weiteren Texte drehen sich vor allem um den Themenkreis Tod und Auferstehung, was angesichts des gefährlichen Berufs kaum verwunderlich ist. Der plötzliche und unvorbereitete Tod war ein großer Schrecken, und so findet sich das Gedicht Friedrich Schillers aus Wilhelm Tell zu dieser Thematik auf Seite 9. Das Lied auf die Treue der Knappen zu Preußen fehlt nicht; es ist unter dem Titel „Bei einem Knappschaftsfest“ in den „Grubenklängen“ zu finden.

 

Auf der Zeche Wiesche hatte die Gewerkschaft, also der Kreis der Zechenbetreiber, eine regelrechte Gesangsausbildung für die jungen Bergleute mit einem Lehrer angestoßen, wie dem Vorwort zu entnehmen ist. Für die Zeche Hannibal, die eng mit der Zeche Hannover verbunden war, ist ab 1854 ein Gesangsverein ebenfalls unter der Aufsicht eines Lehrers bekannt. Liebetraut Rothert hält es in ihrer sozialgeschichtlichen Betrachtung der beiden Zechen für wahrscheinlich, dass die Sänger auch die „Grubenklänge“ nutzten.

 

Schaut man zur Zeche Hannover, ist zunächst einmal zu sagen, dass im Jahr 1850, auf das das Lied- und Gebetbuch datiert, in Bochum-Hordel keine bergbaulichen Aktivitäten stattfanden. Zwar war schon im Jahr 1847 mit der Bohrung „Sechs Brüder“ in 92 m Tiefe Steinkohle amtlich festgestellt und damit die eigentliche Grundlage für die Zeche geschaffen worden, doch erst im Jahr 1857 wurden die ersten Schächte abgeteuft. 

 

Was nun das Beten und Singen im Arbeitszusammenhang betrifft, gab eine Verordnung von 1758 in der Grafschaft Mark für alle Steinkohlenbergwerke vor, dass vor der Anfahrt das Morgengebet zu halten sei. In der revidierten Klevisch-Märkischen Bergordnung von 1766 wurde das Morgengebet auf allen Bergwerken ebenfalls vorgesehen. Durch bergbehördliche Verfügungen zwischen 1818 und 1823 wurde zur Sicherung eines pünktlichen Schichtbeginns die Einführung von Schichtglocken und Versammlungsräumlichkeiten, in denen eine Anwesenheitskontrolle möglich war, verpflichtend. In diesem Zusammenhang wurde auch das Schichtgebet weiterhin als nützlich erkannt. So mahnte ein gewisser Geschworener Klotz aus Essen 1818 an, dass das Beten überall eingeführt werden solle, versprach er sich davon doch mehr Stetigkeit bei den notwendigen Versammlungen vor der Schicht. 

 

Schauen wir noch einmal auf die Zeche Hannover, dann ist auch hier das Morgengebet seit den Anfängen bezeugt. 1858 versuchte der Bergwerksleiter Christian Hostmann beim Bergamt, das zu dieser Zeit die Annahme, Entlassung und Entlohnung der Bergleute regelte, die Wiederbeschäftigung von Heinrich Bredenböcker, der kurz zuvor bei der Zeche abgekehrt war, zu verhindern. Das Bergamt lehnte dies ab, da es bei seiner Untersuchung festgestellt hatte, dass Bredenböcker drei Mal nicht zum Morgengebet erschienen war und sich damit nur eines kleinen Vergehens schuldig gemacht hatte (montan.dok/BBA 20/978, Vorgang 28). Daraus folgt, dass zumindest auf der Zeche Hannover das Morgengebet als verpflichtender Auftakt des Arbeitsalltags angesehen worden ist. 

 

Mit der Abschaffung des Direktionsprinzips im Zuge der Bergrechtsreform von 1851 bis 1865 und dem Übergang der Betriebsleitung in Unternehmerhand verzichteten immer mehr Zechen aus ökonomischen Gründen auf das Schichtgebet. Eine Eingabe von Essener Bergleuten beim König aus dem Jahr 1867 beklagte diesen Zustand: „Obwohl wir aber auch so vielen Unglücksfällen ausgesetzt sind […,] so ist uns doch auch die so schöne liebgewordene Einrichtung genommen worden, daß die Bergleute vor dem Anfahren gemeinsam mit dem verlesenden Steiger ihr Gebet verrichten. […] Wenngleich die Schicht durch das Morgengebet um etwa zehn Minuten verkürzt wurde, so ist es doch unverantwortlich, daß dieses Gebet auf fast allen Gruben in Wegfall gebracht worden ist“.

 

Inwieweit das Lied- und Gebetbuch unseres Bergmanns bei den Andachten, die neben Gebeten auch Gesang beinhalteten, genutzt worden ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, liegt aber nahe. Für das Gebet und den Gesang im Bergbauzusammenhang gibt es jedenfalls eine Vielzahl an Gebets- und Liedbüchern. Im Bereich der Bibliothek des montan.dok ist neben den schon erwähnten „Grubenklängen“ aus verschieden Regionen und Zeiten eine größere Anzahl dieser Schriften erhalten geblieben. 

 

01. Januar 2024 (Dr. Maria Schäpers)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum 1799/1

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 20/1143, 978

 

Gondermann, Bernd: Die Zeche Hannover. Geschichte einer Zeche, Bochum 1982 (= Schriftenreihe des Fördervereines Zeche Hannover I/II/V e.V., Nr. 1).

 

Heilfurth, Gerhard: Gottesdienstliche Formen im beruflichen und betrieblichen Leben des Bergbaus, in: Karrenberg, Friedrich/Beckmann, Joachim (Hrsg.): Verantwortung für den Menschen. Beiträge zur gesellschaftlichen Problematik der Gegenwart, Stuttgart 1957, S. 3-15.

 

Hue, Otto: Die Bergarbeiter. Historische Darstellung der Bergarbeiterverhältnisse von der ältesten bis in die neueste Zeit, 2 Bde. Mit einer Einführung zum Nachdruck von Hans Mommsen, Berlin/Bonn 1981.

 

Kroker, Werner: Für Zählappell und Andacht. Das Bethaus der Bergleute in Muttental, in: Journal für Geschichte 1, 1979, Heft 4, S. 37-39.

 

Lange, Fritz/Kleinhorst, Hermann: Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Zechen Hannover und Hannibal 18. Dez. 1947, Bochum-Hordel 1948.

 

o.A.: Das Schichtgebet im Ruhrbergbau, in: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 7, 1955, Heft 5, S. 23.

 

Rothert, Liebetraut: Umwelt und Arbeitsverhältnisse von Ruhrbergleuten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dargestellt an den Zechen Hannover und Hannibal in Bochum, Münster 1976 (= Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Reihe 1, Nr. 20). 

 

Varchmin, Joachim: Die Zeche Hannover 1847-1914. Zur Geschichte von Technik und Arbeit im Bergbau des 19. Jahrhunderts, Hagen 1991 (= Schriften. Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Westfälisches Industriemuseum, Nr. 9).

 

Weber-Keinhorst, Maria Aloysia/Viehweger, Wolfgang: Auf den Spuren einer Gründerfamilie. Die Familie Keinhorst, online abrufbar unter: https://www.viehweger.tv/presse/2006/190106/190106.htm (Eingesehen: 11.12.2023).

 

Online-Portale: montan.dok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=126268 (Eingesehen: 11.12.2023).