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Ein Bergbauunternehmer auf Reisen: Fotoalben und Urlaubsfotografien von Bergwerksdirektor Wilhelm Kesten

Es gibt viele Gründe, warum Menschen in privaten Kontexten, wie Urlaubsreisen, fotografieren, so zur „persönlichen Erinnerung, der biographischen Selbstvergewisserung und der familiären Selbstdarstellung“ (Pagenstecher, Tourismus, S. 274). Diese Beweggründe spiegeln sich oft auch im Umgang mit den entwickelten Fotos und ihren Verwendungszwecken wider, sind aber für Außenstehende meist nicht direkt nachzuvollziehen. Im Kontext der Visual History versuchen Historiker:innen Entwicklungslinien in den Motiven, Verwendungszwecke und den Umgang mit der privaten (Urlaubs-)Fotografie nachzuzeichnen.

Ein Beispiel für die Nutzung und Verbreitung des Mediums innerhalb des Bürgertums sind die zahlreichen Fotografien und Fotoalben im Nachlass von Bergassessor Wilhelm Kesten (1875-1958), der im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) im Deutschen Bergbau-Museum Bochum bewahrt wird. Kesten war seit 1905 als Bergwerksdirektor auf der Zeche Dahlbusch, wo schon sein Vater Dietrich Kesten gearbeitet hatte, und von 1912 bis 1935 als Generaldirektor der gleichnamigen Bergwerksgesellschaft tätig. Er war somit Teil der bürgerlichen Führungselite des Ruhrbergbaus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

 

Neben seinen beruflichen Tätigkeiten in der Bergbauindustrie machte er mit seiner Frau Thea Kesten (geb. 1889 als Thea Fey) zwischen 1925 und 1937 sowie dann von 1952 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1958 zahlreiche Urlaubs-, Auto- und Kurreisen sowie einzelne Tagesausflüge. Aus der Zeit zwischen 1937 und 1952 sind keine Fotos im Nachlass überliefert. Dabei fotografierte er offenbar auf jeder angetretenen Reise und ordnete die entwickelten Fotos anschließend in Fotoalben, beschriftete diese, verzeichnete sie in einem Katalog und bewahrte sie sorgsam auf. Er achtete dabei auf ein möglichst einheitliches Erscheinungsbild der qualitativ hochwertigen Alben, die er in Serie kaufte. 

 

Wilhelm Kesten war 1927 einer von zwei Millionen so genannten Knipser:innen, also privaten Gelegenheitsfotograf:innen, die mit wenig Aufwand und individuellem ästhetischen Anspruch oft auf Reisen fotografierten. Im Jahr 1939 war die Anzahl dieser Personen in Deutschland schon auf ca. sieben Millionen gestiegen und bis zu Kestens letzter Reise 1958 wuchs die Menge der Menschen, die eine Kamera besaßen, noch weiter an. Wenngleich sich in dieser Zeit die technischen Möglichkeiten der Fotografie verbesserten, lassen sich bei den Fotos von Wilhelm Kesten keine signifikanten Qualitätsveränderungen erkennen. Einen Wechsel auf Farbfilm, mit dem 1955 immerhin schon ca. 30 Prozent der Fotos in Deutschland gemacht wurden, vollzog Kesten nicht. 

 

Nach Cord Pagenstecher waren sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg 57 Prozent aller Privataufnahmen Urlaubs- und Reisefotografien. Die im Nachlass Kesten überlieferten Bilder zeichnen ein anderes Bild. Während es nur ein Album mit Kinderfotos seines Sohnes und wenige mit Bildern seines eigenen Arbeitsplatzes, der Zechenanlagen und seines Wohnhauses gibt, ist der weitaus größte Teil der Fotoalben im Bestand ausschließlich seinen Reisen und Ausflügen gewidmet. Dabei ist nicht auszuschließen, dass der Nachlass nicht alle Fotoalben von Wilhelm Kesten umfasst. Dadurch, dass keine sonstigen Kinder-, Hochzeits- oder andere Familienfotos von ihm im Nachlass überliefert sind, ist zu vermuten, dass es sich nur um einen Teil der Fotos handelt, die der Bergwerksdirektor besaß. Privatere Fotoalben könnten sich noch im Besitz seines engen Familienumfelds als Erinnerung befinden oder vernichtet worden sein.

 

Auch die Motive Kestens weichen vom allgemeinen Trend in der Privatfotografie ab. Innerhalb der Urlaubs- und Reisebilder machten zwischen 1931 und 1945 sowie zwischen 1946 und 1960 Personenbilder über 40 Prozent der Fotos aus, während Landschaften als Motive nur zu 12,6 bzw. zu 9,4 Prozent vertreten waren. Bei Kestens Alben, vermutlich den Reisezielen und Bergwanderungen geschuldet, sind es durchgehend deutlich mehr Bilder von Berg- und Tallandschaften als von konkreten Personen. Das Ehepaar Kesten unternahm die meisten und auch längsten Reisen nach Süddeutschland (besonders Baden-Baden, Bodensee, Tegernsee, Garmisch, Freiburg, Heidelberg), durch die Österreichischen und Schweizerischen Alpen sowie die Italienischen Dolomiten, und sie fotografierten daher vorrangig Berg-, Tal- und Seenlandschaften, Dörfer und Altstädte, aber auch (Kur-)Parks und Tiergärten. Bilder von touristischen Sehenswürdigkeiten bilden vor allem Gebäude und Architektur, wie alte Rathäuser, Marktplätze, Brunnen, Dome, Kirchen, Burgen und Schlösser sowie Ruinen, alte Stadtmauern, Überreste antiker Architektur oder Kriegsdenkmäler ab. Aufnahmen von Personen beschränken sich auf zufällige Passanten oder Mitreisende und mögliche Urlaubsbekanntschaften. Das lässt vermuten, dass die Alben nicht vorrangig als Erinnerung an die Familie und gemeinsame Momente gedacht waren, sondern als bildhafte Reiseberichte, die auch Menschen außerhalb der Familie, Freunden, Bekannten oder Arbeitskolleg:innen vorgeführt werden konnten. Diese Annahme wird auch durch ein Heft unterstützt, in dem Kesten seine Dias katalogisiert und in einem „Verzeichnis der Kassetten, die sich für Vorführungen besonders eignen“ hervorgehoben hat (vgl. montan.dok/BBA 336/9). 

 

Diese Zweckhaftigkeit würde auch die Auswahl der Motive erklären. Wilhelm Kesten fotografierte wie die meisten Reisenden das, was er als besonders und als prägend für seine Reise empfand. Dass seine Frau auf den Reisen dabei war, muss er demnach als selbstverständlich empfunden haben. Er hat sie deshalb selten alleine, sondern vorrangig in besonderen Situationen, beispielsweise mit Urlaubsbekanntschaften oder Mitreisenden, fotografiert. Auch Bilder von ihm selbst zeigen ihn fast ausschließlich in besonderen Situationen, so beim Streicheln eines kleinen Löwen in einem Park. Diese Bilder belegen, dass auch seine Frau Thea und gelegentlich der Sohn Dieter zur Kamera griffen, wobei eine klare Zuordnung der Bilder zu Fotograf oder Fotografin nicht möglich ist. Sein eigenes Auto als Transportmittel ist selten mit abgebildet, damals neu eröffnete Autobahnen, Seilbahnen oder Boote sind hingegen als Besonderheit mehr als einmal zu finden. 

 

Der ungefähre Verlauf der Reisen ist nicht nur durch die Hefte dokumentiert, die Wilhelm Kesten dafür mit Wegbeschreibungen und Informationen über Hotelpreise anlegte. Die Beschriftung der Bilder in den Alben erlaubt es auch Außenstehenden, den Reiseverlauf durch die chronologische Anordnung der Bilder, durch die Nennung der Aufnahmeorte und durch Zusätze wie „Tagesausflug zu …“, „Wanderung auf den Berg …“ oder „Fahrt nach …“ nachzuvollziehen. Hin und wieder hat Wilhelm Kesten den fotografierten Orten oder Gebäuden noch zusätzliche Informationen beigefügt, wie die Einwohnerzahl der meist kleinen Dörfer oder kurze Hinweise zu der Geschichte, Entstehung oder Nutzung eines Gebäudes. Damit folgen die Bilder und Alben eher einem neutralen, ja unpersönlichen Reisebericht, der mit wenig bis gar keinen persönlichen Anekdoten von den Reisen und kaum von den Reisenden selbst erzählen sollte. Auch das Einfügen von unbeschriebenen Postkarten oder gekauften Fotos von Sehenswürdigkeiten unterstreicht diese Funktion als Reisebericht.

 

Nach Cord Pagenstecher passt diese Art von Fotoalben eher in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der Wilhelm Kesten aufgewachsen ist, aus der aber keine Alben von ihm im Nachlass enthalten sind. Die schlichten Alben mit einfacher Zusammenstellung und wenig persönlichen, geradezu „bereinigte[n] […] visuellen Zuschnitte[n]“ (Pagenstecher, Tourismus, S. 269) wurden nach dem Ersten Weltkrieg von persönlichen und „individuell-biografischen“ Fotoalben abgelöst, die seltener zum Vorzeigen für Außenstehende genutzt wurden. Die traditionellen Muster der schlichten Anordnung und sorgsamen Aufbewahrung blieben allerdings, wie bei Wilhelm Kesten, in der Zwischenkriegszeit erhalten, auch weil das Fotografieren und die Entwicklung der Bilder noch recht teuer war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Fotografieren günstiger wurde und auch immer mehr Privatpersonen fotografierten, gingen sie auch weniger sorgsam, lockerer und fast, möchte man sagen, respektloser damit um. Im Nachlass wird dies an den Fotos von Wilhelm Kestens Enkelsohn Günter Kesten, der in den 1950er-Jahren mit dem Fotografieren begann, deutlich. Im Gegensatz zu Wilhelm und Thea Kesten fotografierten er und seine Frau Elke Kesten fast ausschließlich Personen, auch auf ihren Urlaubsreisen. Von ihnen sind zudem Familienfotos bei verschiedenen Feierlichkeiten, wie Hochzeiten, Weihnachtsfeiern oder Geburtstagen im Nachlass enthalten. Die Aufbewahrung ihrer Fotos in losen Konvoluten oder „in den Papiertüten der Fotogeschäfte“ (Pagenstecher, Tourismus, S. 269) sowie die nur knappen Beschriftungen zeugen von einem wenig aufwändigen Umgang mit den Fotos, die ihnen augenscheinlich vorrangig als persönliche Erinnerung dienten. Insofern waren sie damit dem allgemeinen Trend eher voraus, denn in den 1950er- und 1960er-Jahren blieben Fotoalben, wenn auch kreativer und individueller gestaltet, weiterhin weit verbreitet, bevor dann in den 1970er- und 1980er-Jahren die meisten Amateurfotograf:innen auch wegen der stetig wachsenden Menge an Fotos dazu übergingen, die Papierabzüge ungeordnet in Kisten aufzubewahren. 

 

Der Nachlass von Wilhelm Kesten ergänzt die Bestände des montan.dok/Bergbau-Archivs Bochum in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hinsichtlich der Geschichte des Ruhrbergbaus sowie der Bergwerksgesellschaft und Zeche Dahlbusch. Zum anderen gibt er Einblick in das Privatleben von Wilhelm Kesten als Angehörigem der bürgerlichen Funktions- und Führungselite des Ruhrbergbaus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die umfangreiche Fotoüberlieferung im Nachlass ist dabei ein Beleg für den Stellenwert des Reisens sowie vor allem auch des Mediums Fotografie innerhalb dieser sozialen Gruppe. Der Nachlass wurde im Rahmen eines viermonatigen studentischen Praktikums im Masterstudiengang Public History der Ruhr-Universität Bochum erschlossen und verzeichnet und konnte somit als Beispiel für den Einblick in die archivische Arbeit genutzt werden. 

 

01. März 2024 (Judith Neubauer, B.A.)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 336: Wilhelm Kesten, Herne - Bergassessor a.D., Generaldirektor.

 

Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt 2009 (= Historische Einführungen, Nr. 7).

 

Kroker, Evelyn: Wilhelm Kesten, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, S. 551 f.; online abrufbar unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd133725154.html#ndbcontent (Eingesehen: 05.02.2024).

 

Pagenstecher, Cord: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990, Hamburg 2003 (= Studien zur Zeitgeschichte, Nr. 34).

 

Thurner, Ingrid: Tourismus und Fotografie, in: Fotogeschichte: Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 44, 1992, S. 23-42.