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Die Büchse der Pandora? Brisante Freizeitkunst

Ein fast unscheinbares Holzstück entpuppt sich als Holzbüchse mit brisantem Inhalt und spannender Geschichte. Diese Büchse war dem Bergmann nicht nur Hilfe und Arbeitsinstrument. Sie wurde außerhalb des eher technischen Arbeitseinsatzes auch in der Freizeit handwerklich verschönert und erhielt dadurch mitunter einen ideellen Wert für den Bergmann.

Ein zufälliges Gespräch mit einer Besucherin der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum führte 2013 dazu, dass den Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) etwas später durch genau diese Besucherin eine hölzerne Halmbüchse (montan.dok 030007390001) übergeben wurde. In der Regel wird versucht, die Geschichte der Objekte schon in dem Moment abzufragen, wenn sie dem montan.dok angeboten werden. Dies ist Teil einer Objektbewertung und typisch für die Arbeit in musealen Sammlungen. Dabei liegt die Orientierung auf der Einschätzung des historischen und nicht des materiellen Wertes, so auch bei der Halmbüchse.

 

Die Besucherin konnte vermitteln, dass die Halmbüchse aus dem Geburtshaus der Großmutter in einem Vorort von Saarbrücken stammt. Sie ordnete die Halmbüchse rückblickend auf die Familiengeschichte in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Vermutlich gehörte die Halmbüchse dem Urgroßvater der Besucherin, der als Bergmann im Steinkohlenbergbau im Saarland tätig war und durch einen Arbeitsunfall zu Tode kam. Auch wenn diese Herkunft nicht lückenlos zu belegen ist, passt die Halmbüchse genau in den kurzen Zeitabschnitt von 1855 bis 1870, als im Saarland diese als „sehr eigenwillig“ (Scharwath, S. 72) geformt bezeichneten, hölzernen Deckeldosen als Arbeitsgerät vor Ort Verwendung fanden.

 

Es handelt sich um eine aus einem Stück Holz gefertigte Doppelröhre mit geschnitzter Verzierung der Ecken und eingeschnittenem Linien-Dekor an der längeren Halmröhre. Als Verschluss dient ein Klappdeckel mit Scharnier und langem dünnen Drahthaken. Unterhalb des Scharniers befindet sich eine Drahtöse mit beweglicher Drahtschlaufe als Trage- oder Aufhängevorrichtung. Der eckige Körper besitzt an einer Seite eine rundholzförmige Verlängerung. Im Inneren der Büchse befinden sich zwei kreisrunde Bohrungen. Die tiefere bzw. längere Halmröhre ist ca. 20 cm lang und erstreckt sich durch das Rundholz. In ihr befinden sich sechs an den Enden schräg angeschnittene und versiegelte Strohhalme. Die kürzere ca. 8 cm lange Röhre ist leer. In ihr befanden sich ursprünglich Drähte mit Zunderplättchen oder so genannte Schwefelmännchen, ein von Schwefel umgebener Faden.

 

Wozu wurden solche Halmbüchsen genutzt? Halmbüchsen dienten zur Aufbewahrung und zum Transport von Sprengmitteln, nämlich Halmzünder und Anzündmaterial (Schwefelmännchen, Zunderplättchen). Diese mussten bis zu ihrem Einsatz äußerst vorsichtig behandelt werden. Beschädigungen dieser Materialien erhöhten zwangsläufig das Risiko von schweren Unfällen bei der Sprengarbeit. Man mag sich das vorstellen können, wenn man den Zündvorgang einer Sprengung etwas näher betrachtet, und zwar von dem Zeitpunkt an, als die Halmbüchse bzw. deren filigraner Inhalt zum Einsatz kam. Beschreibungen in historischen Lehrbüchern aus der Zeit der Halmbüchse verweisen darauf:

 

Nachdem man das zur Sprengung hergestellte Bohrloch gereinigt hatte, wurde es mit Pulver gefüllt. Zusätzlich wurde eine dünne Räumnadel aus Bronze in das Bohrlochaus eingesetzt. Diese schaute noch ein Stück weit aus dem Bohrloch. Es folgte die Füllung mit einem Besatzmittel, das das Loch abdichtete. Besonders geeignet war trockener Letten (tonhaltiges, plastisches Gestein), das in kleinen Stücken eingeführt und in einer ersten Schicht zunächst locker, in den nächsten Schichten fester gestampft wurde. Anschließend wurde die Räumnadel gezogen, wodurch ein Kanal entstand. In diesen Kanal wurde der Halmzünder gesteckt. Der Halmzünder – ein präparierter, mit Schießpulver gefüllter und versiegelter Schilf- oder Getreidehalm – musste nicht zwangsläufig bis in das Pulver des Bohrlochs reichen. Die raketenartige Sprühwirkung des schlagartig entzündeten Pulvers im Halm erreichte die Pulverladung auch über eine gewisse Entfernung. Gezündet wurde der Halmzünder durch den Schwefelfaden (Schwefelmännchen), der am Ende des Halmes befestigt war und nach dem Anzünden langsam zum Halm durchbrannte. So erhielt der Bergmann die Zeit, die er benötigte, um sich an einen sicheren Platz zu begeben. Verständlich ist es daher, dass sich Bergleute die für Halmzünder am besten geeigneten, einwandfreien Strohhalme auch selbst beschafft haben.

 

Das Verfahren mit Halmzündern hatte Vor- und Nachteile ebenso wie auch der Einsatz von Zündschnur oder Sicherheitszündern, die es bereits gab. Sicherheit, Kosten und Praktikabilität waren Argumente für oder gegen die Verwendung der verschiedenen Zünderarten. Verfahren, die Schüsse (Bezeichnung für ein zur Sprengung besetztes Bohrloch) mit „Electricität und Galvanismus“ (Hartmann, S. 193) zu zünden, waren möglich und hatten viele Vorteile vor allem hinsichtlich der Sicherheit. Die gefährliche Art der Halmzündung verschwand und damit auch die Notwendigkeit der Benutzung von Halmbüchsen.

 

Eine andere Betrachtung dieser hölzernen Halmbüchsen richtet sich auf ihre kulturgeschichtliche Stellung als Objekt der bergbaulichen Freizeitkunst. Als sicher kann gelten, dass der Bergmann eine besondere Beziehung zu seiner Halmbüchse hatte. Sie war das stolze Kennzeichen eines Hauers. Er trug sie eng am Leib und sicherte dadurch die Unversehrtheit des Inhalts. Als Ausdruck dieser Wertschätzung wurden auf den hölzernen Halmbüchsen oft Verzierungen eingeschnitzt. Dass dies durch die Träger selbst geschah, kann angenommen werden. Halmbüchsen dieser Art zeigen oft den Bergmannsgruß sowie das Symbol Schlägel und Eisen. Zweige und Linien als Ritzverzierungen ausgeführt oder Kerbschnitzdekore finden sich ebenfalls. Als die Halmzündung abgelöst wurde, verschwand auch die Halmbüchse als Zeugnis saarländisch-bergmännischer Freizeitkunst.

 

Wenngleich die hier gezeigte saarländische Halmbüchse aus Holz zu den weniger aufwändig verzierten Exemplaren zählt, geschnitzte Motive sind nicht vorhanden, reiht sie sich dennoch in diese Gruppe ein. In den Musealen Sammlungen des montan.dok befindet sich noch eine andere, zierlicher ausgeführte und nahezu flächendeckend mit geschnitzten Verzierungen und mit Initialen auf dem Deckel versehene Halmbüchse (montan.dok 030011035000). Diese enthält nicht nur Zündhalme, sondern auch Schwefelmännchen. Sie ist bereits 1935 in die Sammlungen eingegangen. Die Dokumentation gibt leider keine Hinweise auf eine Zuordnung zum saarländischen Steinkohlenbergbau, was aber nach heutigem Kenntnisstand angenommen werden kann.

 

Die hölzernen Halmbüchsen gehören zu den wenigen Gruppen von Gegenständen, denen sich der Bergmann in besonderer Weise und losgelöst von ihrem eigentlichen (technischen) Zweck widmete und diese mit künstlerischen Verzierungen versah. Andere, ebenfalls im montan.dok gesammelte Objekte, die in ähnlicher Weise von ihren Trägern behandelt wurden, sind beispielsweise die meist aus Messing gefertigten, zum Teil reich verzierten Schnupftabaksdosen aus dem walisischen Steinkohlenbergbau des 19. und 20. Jahrhunderts.

 

01. September 2021 (Dr. Michael Ganzelewski)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030007390001, 03001135000

 

Hartmann, Carl: Handbuch der Bergbau- und Hüttenkunde oder die Aufsuchung, Gewinnung und Zugutemachung der Erze, der Stein- und Braunkohlen und anderer nutzbarer Mineralien, Weimar 1858.

 

Heise, Friedrich/Herbst, Fritz: Lehrbuch der Bergbaukunde mit besonderer Berücksichtigung des Steinkohlenbergbaus, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1911.

 

Keuth, Hermann: Die Halm-Büchse – ein unvergessenes Bergmannsgerät, in: Unsere Heimat-Blätter für saarländisch-pfälzisches Brauchtum 1, 1936/37, S. 211-212.

 

Lottner, Heinrich: Leitfaden zur Bergbaukunde, Berlin 1869.

 

Leuschner, Ernst: Zündschnur oder Zündhalm, in: Kohle und Erz. Technischer Anzeiger für Berg-, Hütten- und Maschinenwesen 39, 1908, S. 765-770.

 

Scharwath, Günter: Kunst für den Bergmann. Volkskunst im saarländischen Bergbau, in: Saarbrücker Bergmannskalender, 1995, S. 71-77.