Direkt zum Inhalt

Geburtsort eines deutschen „Braunkohlenriesens“ – Die Ilse Bergbau AG

Mit dem „Kohleausstiegsgesetz“ aus dem Jahr 2020 verabschiedete sich die Bundesrepublik vom aktiven Bergbau auf fossile Brennstoffe. Die Schließung der letzten beiden deutschen Steinkohlenbergwerke Ibbenbüren und Prosper-Haniel 2018 markierte eine öffentlich prominent wahrgenommene Zwischenetappe auf dem Weg in ein nachhaltiges Energiesystem. Bis spätestens 2038, so sieht es das Gesetz vor, laufen nun sukzessive auch die noch aktiven Braunkohlengruben in der Bundesrepublik aus. Betroffen hiervon sind die Bundesländer Nordrhein-Westfalen (Rheinisches Revier), Brandenburg (Lausitzer Revier), Sachsen (Lausitzer und Mitteldeutsches Revier) und Sachsen-Anhalt (Mitteldeutsches Revier).

Zur Abfederung sozioökonomischer Verwerfungen, die mit der Einstellung der Braunkohlenförderung einhergehen können, wurde dem „Kohleausstiegsgesetz“ das „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ zur Seite gestellt. Die von den betroffenen Bundesländern entwickelten Leitbilder bestimmen dabei die Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel. In den Leitbildern spielen die Geschichte des Braunkohlenbergbaus und seine Überlieferung eine unterschiedlich große Rolle. Dies tritt unter anderem in den seit 2021 laufenden Erfassungsprojekten der zuständigen Landesdenkmalämter in den drei Revieren zutage, die die materiellen Relikte und Hinterlassenschaften des Braunkohlenbergbaus in den drei Revieren aufnehmen. Sie sind zugleich ein Indiz dafür, dass die Historisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus noch in den Kinderschuhen steckt. Aus westdeutscher Perspektive mag dies wenig überraschend sein, basierte doch das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg ganz maßgeblich auf der Gewinnung und Nutzung der Steinkohle. Aus ostdeutscher Sicht hingegen darf das durchaus verwundern, da die Wirtschaft der DDR auf dem Braunkohlenbergbau basierte. Gleichwohl diese Forschungslücke bereits in den 1990er-Jahren erkannt und diskutiert wurde, existiert sie bis heute fort, worauf bereits mehrfach Mitarbeitende des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) hinwiesen und ihrerseits Beiträge zur Thematik vorlegten.

 

Einen zentralen Baustein für die Historisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus stellt der Archivbestand montan.dok/BBA: 123 Ilse Bergbau GmbH, Bonn, dar, der im montan.dok/Bergbau-Archiv Bochum bewahrt wird. Sind die gut 40 laufenden Meter Überlieferung, die teilweise als Depositum von den Rechtsnachfolgern der Ilse Bergbau GmbH übergeben wurden, bislang nur ansatzweise erschlossen, ist ihre Bedeutung dennoch bereits erkennbar. Neben Unterlagen zur Gründungsgeschichte des Unternehmens finden sich solche über Beteiligungen, einzelne Gruben, Grundbesitz aber auch Bohrkarten. Darüber hinaus zählen zum Bestand neben zahlreichen Plänen auch Fotos, die uns Einblicke in die Gewinnungs- und Weiterverarbeitungsanlagen des Unternehmens geben. Zwei von ihnen zeigen den historischen Ursprungsort der Firma, die Grube bzw. den Tagebau Ilse. Dieser lag nahe der Stadt Senftenberg im Lausitzer Revier, und das in Berlin beheimatete Chemieunternehmen Kunheim & Co. hatte bereits 1870 hier Land mit Braunkohlenvorkommen erworben. Ein Jahr später wurde die Förderung der Braunkohle im Tiefbau aufgenommen und versorgte die in Bückgen errichtete Oxalsäurefabrik von Kunheim & Co. mit Brennstoff. Die Grube firmierte unter der Bezeichnung Ilse, dem späteren Namen des Unternehmens. Beide schwarz-weiß Fotografien sind undatiert, doch lassen Bildmotive und Details Datierungsansätze zu. Da erst seit 1896 im Tagebau Kohle gefördert wurde, kann das Bild 1 auf Anfang des 20. Jahrhunderts datiert werden, hierfür spricht auch die eingesetzte Fördertechnik. Bild 2 zeigt uns die Veredelungs- bzw. nachgelagerten Anlagen des Tagebaus, so eine Ziegelei und eine Brikettfabrik. Da der handschriftliche Eintrag hier nur von einer Brikettfabrik spricht, dürfte es zwischen 1879, dem Jahr der Inbetriebnahme der ersten Brikettfabrik des Standortes, und 1887, als die zweite Fabrik in Betrieb ging, entstanden sein. Die auf dem Bild zu sehenden Niederräder sprechen tendenziell für eine Datierung in den 1880er-Jahren.

 

Historisch markiert die am 01. Juli 1888 erfolgte Ausgliederung und Verselbstständigung der Ilse Bergbau Actiengesellschaft zur Grube Ilse NL (Niederlausitz) den Startschuss für eines der einflussreichsten Bergbauunternehmen im Lausitzer Revier. Ausgestattet mit einem Gründungskapital von 2,3 Millionen Mark konnten nicht nur bestehende Anlagen modernisiert werden, sondern das Unternehmen expandierte auch zügig. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete die Ilse bei Brieske im Lausitzer Revier für ihre Mitarbeitenden die Gartenstadt Marga, die stark von Reformarchitektur und Jugendstil geprägt ist. In den 1920er-Jahren ging die Anteilsmehrheit der Aktiengesellschaft in den Besitz des tschechischen Großindustriellen Ignaz Petschek (1857-1934) über, dessen Konzern bereits im deutschen Braunkohlensektor aktiv war. Da Petschek jüdischen Glaubens war, wurden seine deutschen Firmen bzw. -anteile im „Dritten Reich“ arisiert, also enteignet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in der DDR dann privatwirtschaftliche Strukturen der Braunkohlenindustrie zerschlagen und verstaatlicht. Die Ilse blieb aber in der Bundesrepublik bis 1994 weiterhin aktiv, konnte hier jedoch nie die ökonomische Bedeutung erlangen, die sie im Lausitzer Revier besessen hatte. Die Firmengeschichte verdeutlicht schlaglichtartig die historiographische Bedeutung des Bestandes montan.dok/BBA 123, insbesondere auch, da Firmengeschichte mit deutscher und europäischer Wirtschafts- und Politikgeschichte auf das eindrucksvollste verbunden werden können.

 

01. September 2023 (Dr. Torsten Meyer)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 123: Ilse Bergbau GmbH, Bonn

 

Farrenkopf, Michael: „Erkenntnisse zutage fördern“. Zur Musealisierung des Braunkohlenbergbaus in Deutschland, in: Albrecht, Helmuth/Farrenkopf, Michael/Meyer, Torsten (Hrsg.): Der Umgang mit den Denkmalen des Braunkohlenbergbaus, Halle 2023 (= INDUSTRIEarchäologie, Bd. 22), S. 16-35.

 

Farrenkopf, Michael/Meyer, Torsten: Stillgelegt. Aspekte der Musealisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus vornehmlich in den ostdeutschen Revieren, in: Farrenkopf, Michael u. a. (Hrsg.): Alte Dinge – Neue Werte. Musealisierung und Inwertsetzung von Objekten, Göttingen 2022 (= Wert der Vergangenheit), S. 89-110.

 

Farrenkopf, Michael/Meyer, Torsten: Einleitung, in: Albrecht, Helmuth/Farrenkopf, Michael/Meyer, Torsten (Hrsg.): Der Umgang mit den Denkmalen des Braunkohlenbergbaus, Halle 2023 (= INDUSTRIEarchäologie, Bd. 22), S. 8-15.

 

Ilse Bergbau Actiengesellschaft (Hrsg.): Festschrift zur Feier des 25-jährigen Bestehens der Ilse Bergbau-Actiengesellschaft, 1888-1913, o. O. [Berlin] o. J. [1913].

 

Keilhack, Konrad: Die geologischen Verhältnisse der Niederlausitz mit besonderer Berücksichtigung der alten und neuen Tagebaue der Ilse Bergbau-Actiengesellschaft. Fünfzig Jahre Ilse, Bergbau-Actiengesellschaft, o. O. [Berlin] o. J. [1938].

 

Meyer, Torsten: Kein Schrott!? – Über „Zeitschichten des Technischen“, „technische Eigenzeiten“ und den Wandel des Objektstatus einer Abraumförderbrücke im Niederlausitzer Braunkohlenrevier, in: Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Materielle Kulturen des Bergbaus | Material Cultures of Mining. Zugänge, Aspekte und Beispiele | Approaches, aspects and examples, Berlin/Boston 2022 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 243; = Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums, Nr. 43), S. 159-215.

 

Treue, Wilhelm: Die Ilse, Bergbau-Actiengesellschaft 1888-1951 (1970) in der Niederlausitz, in Hessen und in Bayern, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 39, 1990, S. 221-246.