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Man muss die Feste feiern, wie sie fallen – das Rätsel um die Zahl 98.674

Zu Beginn des Projektes „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung“ (GBGV), dem Vorgängerprojekt von „montan.dok 21“, war die Re-Inventarisierung und Dokumentation der rund 400 Objekte umfassenden Abbau- und Bohrhämmer-Sammlung eine der ersten Aufgaben. Im Bestand befinden sich eine Vielzahl von Geräten der Firma Flottmann aus Herne, die zum Teil aus dem firmeneigenen Museum stammten und in den Jahren 1947 und 1967 über zwei Schenkungen den Weg in die Musealen Sammlungen des Deutschen Bergbau-Museums Bochum fanden.

Die Firma Flottmann verfolgte als Bergbauzulieferer schon sehr früh eine ausgeprägte Werbestrategie. Der Betrieb eines Firmenmuseums in Herne, Verkaufsniederlassungen und Schaufensterausstellungen an strategisch wichtigen Plätzen, die Präsenz bei Ausstellungen und Messen, das Spielen mit Werten und Emotionen in Werbeanzeigen sowie die firmeneigene Zeitschrift „Der Bohrhammer“ sind nur einige Beispiele aus einer Zeit, in der Marketing noch in den Kinderschuhen steckte.

Der umfassende Bestand des Flottmann-Museums beinhaltete nicht ausschließlich Geräte des eigenen Unternehmens, sondern auch internationale Fabrikate sowie Versuchsmodelle aus der Historie der Bergbautechnik, wenn auch die Produkte der Firma Flottmann immer im Mittelpunkt standen und auch den Schwerpunkt der eigenen Sammlung bildeten. Im Laufe der Re-Inventarisierungsarbeiten im montan.dok fielen zwei Bohrhämmer ganz besonders ins Auge. Der eine ist mit der Zahl 10.000 und dem Datum 25. November 1909 (montan.dok 030100837001), der andere mit der Zahl 20.000 und der Datierung 31. Oktober 1911 (montan.dok 030100816001) gekennzeichnet. Der Rückschluss, dass es sich dabei um Jubiläumsfabrikate handelt, lag sehr nahe und konnte schnell durch vorliegende Quellen, wie z. B. Berichte in Firmenpublikationen oder Bestandslisten, bestätigt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt lag eine weitere Besonderheit auf dem Tisch: Ein Bohrhammer mit den Gravuren 98.674 und 23. März 1922 (montan.dok 030100832001). Natürlich wusste auf Anhieb niemand, was es mit der Zahl auf sich haben könnte. Auch aus der historischen Dokumentation oder aus den Beständen des Bergbau-Archivs Bochum, insbesondere dem Bestand 112 zur Geschichte des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, ließen sich keine neuen Erkenntnisse zu diesem ungewöhnlichen Objekt generieren, obwohl sich dort u. a. Lieferscheine und Korrespondenzen befinden.

Da die Nummer auf kein rundes Jubiläum hinwies, wurde versucht, das Datum auf ein besonderes Ereignis in der Firmengeschichte zu beziehen. Auch diese Suche blieb ohne Erfolg. Geburtstage, Jahrestage, Gründungsdaten – nichts passte auf den 23. März 1922. Erst der Zufall brachte die Aufklärung: Bei allgemeinen Recherchen zur Firma Flottmann tauchte eine Werbeanzeige zur Wasserbau- und Schifffahrtsausstellung vom 31. März bis 30. April 1922 in Essen auf, in der Flottmann angab, welche Produkte dort zur Schau gestellt werden sollten. Eben dort wurde der Bohrhammer mit der Nummer 98.674 aufgeführt. Man kann also davon ausgehen, dass der Bohrhammer frisch vom Herner Band auf den Ausstellungstisch in Essen wanderte.

Wieso nicht der 100.000. Bohrhammer auf einer solchen Ausstellung gezeigt worden war, ergibt sich aus einem Artikel aus dem April 1922: „Der ausgestellte Bohrhammer mit der Nummer 98.674 deutet auf die einzigartige Tatsache hin, dass die Flottmannwerke in ganz kurzer Zeit der Herstellung des 100.000. Bohrhammers entgegensehen. Dieser Umstand zeugt für die überragende und beherrschende Stellung, welche diese Werke infolge der beharrlichen Ausbildung und Vervollkommnung der Hammermaschinen auf dem Gebiete der Gesteinsbohrtechnik einnehmen. Lieferten doch bisher die Flottmannwerke mehr Bohrhämmer als alle anderen Unternehmungen in Deutschland, die sich mit der Fabrikation von Bohrhämmern befassen, zusammengenommen! Ein solch bedeutsamer Erfolg kann nie allein das Ergebnis geschäftlicher Tüchtigkeit sein, sondern muss sich auch auf technische Überlegenheit, auf die aus reicher Erfahrung entspringende Sorgfalt der Fabrikation und Zweckmäßigkeit der Bauart gründen. Dass es für die Flottmannwerke hierin keinen Stillstand gibt, vermögen die Ausstellungsgegenstände naturgemäß nur teilweise anzudeuten.“

Gerade im Hinblick auf das stets makellos präsentierte Selbstverständnis des Unternehmens darf man die ketzerische Frage stellen, ob es das Ziel, zur Ausstellung die Nummer 100.000 zu produzieren, schlicht verfehlt habe. Selbst wenn in dieser Spekulation ein wahrer Kern stecken würde, so ließ sich die Firma nicht lumpen: Zur Herstellung des 100 000. Bohrhammers, der am 10. Mai 1922 die Werke verließ, aber leider nicht in die Musealen Sammlungen gelangt ist, hat die Firma Flottmann eine besondere Feier veranstaltet. Das überrascht in Anbetracht der vorhergehenden Ausführungen über das Selbstverständnis des Unternehmens nicht besonders. An diesem Tage feierte die Witwe des Gründers, Emilie Flottmann, ihren 71. Geburtstag. In der Festansprache wurde erwähnt, dass die Bohrhämmer, würde man sie nebeneinanderlegen, eine Strecke von 14 km ergäben: der Weg von Herne nach Bochum und zurück. Hintereinander ergäben sie sogar eine Strecke von über 50 km. Auch an dieser Stelle zeigt sich die Strategie, besondere Ereignisse zu eigenen Marketingzwecken zu nutzen und einzusetzen.

Aus der Luft gegriffen waren die aus heutiger Sicht vielleicht etwas überhöht präsentierten Erfolge aber nicht: Die Flottmann-Werke lieferten zu diesem Zeitpunkt mehr Bohrhämmer aus als alle anderen produzierenden Unternehmen in Deutschland zusammen. Dieser Erfolg hielt einige Jahre an. Der Beginn der Bergbaukrise 1957 wirkte sich jedoch auch auf die wirtschaftliche Situation der Flottmann AG aus. Im Jahre 1983 verlagerte man den Hauptstandort von der Flottmannstraße nach Herne-Baukau. Am alten Standort gingen 1986 die Flottmann-Hallen als Kulturzentrum hervor, wo bis heute ein vielfältiges Programm geboten wird. Schon kurz nach dem Umzug, im Jahre 1988, erfolgte die Fusion mit Secair und Bauer zu Ecoair unter dem Dach von MAN. Der Verkauf an die Ingersoll Rand Company 1994 führte letztlich zum Ende des Unternehmens.

Mehr zu der spannende Geschichte der Entdeckung des Flottmann-Museums und zu seinem Bestand sowie weiteren Objekten aus den Musealen Sammlungen, die während der genannten Projekte „GBGV“ und „montan.dok 21“ bearbeitet wurden, finden Sie in dem im Oktober 2020 erschienenen Band „Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme“.

01. April 2021 (Maren Vossenkuhl, M.A.)


Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030100837001, 030100816001, 030100832001
Brinkmann, Karl: Die Geschichte der Flottmann Werke, Bochum 1955.
Brinkmann, Karl: Die Geschichte der Flottmann Werke, Bochum 1955.
O. A.: Der 100 000ste Bohrhammer, in: Der Bohrhammer, Juni 1922, S. 72-73.
O. A.: Der Bohrhammer, März 1922, S. 35.
O. A.: Wasserbau- und Schifffahrtsausstellung Essen 1922, in: Der Bohrhammer, April 1922, S. 39-46.
Piorr, Ralf (Hrsg.): Flottmann. Eine Geschichte des Reviers, Essen 2015.
Vossenkuhl, Maren: Provenienzforschung: Ein Museum im Museum. Die Bohr- und Abbauhämmer des „Flottmann-Museums“, in: Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 233; = Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums, Nr. 36), S. 335-358.