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Eine Welt, die anzieht und schockiert: Eine Gräfin unter Tage

Elisabeth Karoline Mary Margarete Veronika Gräfin von der Schulenburg, besser bekannt als Tisa von der Schulenburg, führte für eine Adelige ein unkonventionelles Leben. In der Welt der Reichen und Schönen fühlte sie sich isoliert, weshalb sie nach ihrem Kunststudium begann, auf Berliner Arbeitsämtern der 1930er-Jahre die „wirkliche Welt“ – wie sie es formulierte – kennenzulernen. Eine zufällige Begegnung führte sie 1936 nach Durham. Dort entdeckte sie ihre Faszination für den Bergbau, die sie bis zu ihrem Lebensende nicht mehr losließ.

Zeugnis dieser Faszination sind unzählige grafische und bildhauerische Werke mit Bergarbeitermotiven, von denen ein beachtlicher Teil in den Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum (DBM) bewahrt wird. Schon in frühen Kindertagen entwickelte die 1903 in eine mecklenburgische Adelsfamilie hineingeborene Tisa ein reges Interesse an Kunst. Anfangs schuf sie vor allem Scherenschnitte. Bei Besuchen von Ausstellungen in Berlin fand sie schließlich Zugang zur expressionistischen Kunst. Gegen den Willen des Vaters doch unterstützt von ihrer Mutter, nahm sie ab 1925 Privatunterricht bei einem Berliner Bildhauer. Im Folgejahr schrieb sie sich an der Kunstakademie in Berlin ein und lernte bei Fritz Klimsch (klassische Kunst) und Edwin Scharff (Expressionismus, Kubismus) die Bildhauerkunst. Während eines Gastsemesters in Paris (1927) entdeckte von der Schulenburg, die sich selbst nur kurz Tisa nannte, Porträtplastiken für sich. Beeindruckt war sie zudem von den Werken Ernst Barlachs, was sich in ihren Holz- und Bronzeplastiken widerspiegelt.

 

Die 1930er- und 1940er-Jahre waren weltpolitisch ohnehin und für Tisa zusätzlich privat eine krisenhafte Zeit. In den elitären Kreisen, in denen sie verkehrte, fühlte sie sich nicht wohl. Politische Differenzen führten zum endgültigen Bruch mit ihrer Familie und die Ehe mit einem jüdischen Textilfabrikanten zwang sie 1934 zur Emigration nach England. Auf der Suche nach ihrem Platz im Leben fand sie zwei Jahre später Zugang zum Bergbau. Über die Künstlergruppe ‚Artist's International Association‘ erhielt sie eine Einladung nach Durham. In den dortigen ‚Clubs‘ sollte sie arbeitslosen Bergleuten das Schnitzen beibringen. Unsicher über ihre Rolle und Funktion nahm sie diese Aufgabe dennoch an. „Mich bedrückt die Frage in den Tagen“, erinnerte sie sich später, „was machst du hier? Sehen lernen? Anschluß finden? Du bildest dir doch wohl nicht ein, du könntest diesen Arbeitslosen helfen? […] Es sind stolze und harte Männer. Du bist nur hier, weil diese Welt dich anzieht – und schockiert“ (Schulenburg, Meine dunklen Brüder, S. 26). Fasziniert von der ungebrochenen Leidenschaft der Bergleute für ihre Arbeitswelt fuhr Tisa schließlich selbst an. Seitdem gehörten Arbeiter:innen, Arbeitslosigkeit, Armut und die Härte des Lebens zu ihren zentralen Motiven. Monatelang schnitzte sie Bergarbeiter, stellte dann aber in der Auseinandersetzung mit dem englischen Bildhauer Henry Moore fest, dass ihre Begabung nicht im Bereich der Plastik lag. Zukünftig konzentrierte sie sich deshalb auf Rohrfederzeichnungen und setzte einige Motive auch in Reliefs um.

 

Typisch für ihr grafisches Werk sind – neben ihrer Vorliebe für Schwarz-Weiß-Grafiken – einfache, kantige Formen und unruhige Strichfolgen auf getöntem Papier. Ihre Bergleute zeichnete sie zumeist skizzenhaft in geduckter, liegender, hockender oder kriechender Haltung. Im Vordergrund steht stets der schwer arbeitende, gequälte Mensch, was in der Regel in den Gesichtern und hageren Körpern zum Ausdruck kommt. Stilistisch und ästhetisch weichen die Werke der sozial engagierten Künstlerin also deutlich von dem zeitgenössischen, nicht nur im Deutschen Reich, propagierten Ideal vom nach klassizistischem Vorbild gestalteten Arbeiterhelden ab.

 

Tisas produktive Schaffensphase kam 1939 zu einem vorläufigen Ende. Als sie nach dem Staatsbegräbnis ihres linientreuen Vaters wieder nach England reisen wollte, hielt man sie für eine Spionin des nationalsozialistischen Deutschlands und verweigerte ihr die Einreise. Der unfreiwillige Aufenthalt im Deutschen Reich und eine gescheiterte Beziehung lösten bei Tisa Depressionen aus, die mit einer Schaffenskrise einhergingen. Den Krieg verbrachte sie weitgehend allein auf dem Gut ihres zweiten Ehemannes in Mecklenburg. 1945 löste sie auch diese Beziehung. Auf der Flucht vor der Roten Armee fand sie zunächst in Lübeck eine Anstellung als Sekretärin bei der britischen Militärregierung. Danach war sie als Wohlfahrtspflegerin in einem englischen Militärdepot bei Hamburg tätig.

 

1947 ergatterte Tisa eine Anstellung als freie Mitarbeiterin bei der Zeitung Die Welt. In diesem Zusammenhang erhielt sie den Auftrag, über die Zustände im Ruhrrevier zu berichten. Tisa nahm diese Arbeit gerne auf, weil sie sich davon versprach, sich wieder den Bergleuten widmen zu können. So kam es schließlich auch. In Bochum wies man ihr ein Zimmer in der Verwaltung der Zeche Hannover-Hannibal zu. Wenig später bekam sie zahlreiche Gelegenheiten, auf verschiedenen Zechen einzufahren.

 

Die geplante Rückkehr nach England im Sommer 1948 scheiterte erneut an einer fehlenden Einreisegenehmigung. Enttäuscht, wegen ihrer passiven Haltung im Krieg von Schuldgefühlen gebeutelt und vom Streben nach Geld, Macht und Wohlstand im Nachkriegsdeutschland angewidert, sah Tisa in der Hinwendung zu Gott die einzige Möglichkeit, um ein neues, glücklicheres Leben zu führen. So kam sie schließlich nach Dorsten. Dort lebte sie zunächst als Gast im Ursulinenkloster, unterrichtete Kunst und lernte gleichzeitig Gebete, Lieder und den Rhythmus des Kirchenjahres kennen. Im September 1950 trat sie schließlich in das Kloster ein, in dem sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 als Schwester Paula lebte.

 

Künstlerisch bedeutete dies nicht das Ende ihres Schaffens. Neben der Gestaltung von Kirchenfenstern widmete sie sich wieder verstärkt der bildhauenden Kunst, nun allerdings vorzugsweise in Holz. Außerdem bereiste sie die Welt und widmete sich – zusätzlich inspiriert von Dokumentarfotografien – in ihrem Werk Themen wie Krankheit, Hunger und Vertreibung. So entstanden Zeichnungen mit humanitärer und politischer Anklage beispielsweise in Bezug auf die Behandlung von Gefangenen in Gefängnissen Vietnams, die Situation von fliehenden Menschen in Chile, die Polizeigewalt in Südafrika, die Notlage hungernder Kinder in Bangladesch oder die Gesundheitsversorgung in Äthiopien. Auch die nationalsozialistischen Verbrechen thematisierte sie in ihrem grafischen Werk.

 

Erst in den 1970er-Jahren fand Tisa, nun als Schwester Paula, den Weg zurück in den Bergbau. Der zweite Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie hatte ihre Werke im Kloster entdeckt. Angetan von Tisas Kunst vergab er verschiedene Aufträge für die Gewerkschaft an sie und sorgte dafür, dass Grafiken, Skulpturen und Reliefs im DBM ausgestellt wurden. Der Stil der nun zur ‚Bergarbeiterkünstlerin‘ avancierten Tisa hatte sich nicht wesentlich verändert. Inhaltlich standen nun weniger die sozialen Nöte, sondern die mühevolle Arbeit und die schwierigen Arbeitsbedingungen unter Tage thematisch im Vordergrund.

 

Selbst mit über 70 Jahren ließ Tisa es sich nicht nehmen, den Bergleuten vor Ort zu begegnen. Neben den Menschen zog die technische Entwicklung unter Tage sie in den Bann. So zeigen ihre Rohrfederzeichnungen und Reliefs, nicht wie so häufig in der bildenden Kunst, ausschließlich Bergleute im Abbau, bei der Wagenförderung, der Ein- und Ausfahrt oder dem Buttern. Tisa beobachtete die Arbeiter auf der Zeche ‚Fürst Leopold‘ (Dorsten) im Alltag und hielt scheinbar Beiläufiges im Bild fest. Dazu gehören beispielsweise Kumpel, die auf einem Transportband fahrend ihre Kräfte schonen, auf allen Vieren unter einem Schildausbau an einem Kohlenhobel vorbeikriechen, ein Transportband aufhängen oder zusammengepfercht in einer Dieselkatze sitzen.

 

Eine Besonderheit in den Musealen Sammlungen des DBM sind Tisas Werke zum außereuropäischen Bergbau. Mit Grafiken etwa zu dem Steinkohlenbergbau in den USA, von Kohlenträgerinnen in Indien, dem Smaragdschürfen in Kolumbien oder dem Goldbergbau in Südafrika erinnert ihr künstlerisches Werk an Aspekte, die im Ruhrgebiet leicht aus dem Blick geraten: Bergbau gab und gibt es weltweit. Er umfasst mehr als den Abbau von Kohle, war und ist auch ein Arbeitsplatz für Frauen und bedeutet in einigen Ländern der Welt aufgrund unzureichender Schutzvorrichtungen knochenschwere Arbeit in Lebensgefahr.

 

Die Tiefenerschließung einzelner Bestände in den Musealen Sammlungen und die Einordnung der vorhandenen Werke in die Biografien der jeweiligen Künstler:innen bilden die Grundlage dafür, um Sammlungslücken gezielt schließen zu können. Im Falle Tisa von der Schulenburgs liegt der Sammlungsschwerpunkt derzeit auf ihren Rohrfederzeichnungen. Der aufgearbeitete Bestand ist über die online-Datenbank des montan.dok einsehbar.

 

01. Januar 2022 (Anna-Magdalena Heide, M.A.)

 


Literatur

Kösters, Klaus: Tisa von der Schulenburg. Kunst im Brennpunkt des Zwanzigsten Jahrhunderts, Münster 2014.

 

Schulenburg, Tisa von der: Begegnungen mit dem Bergbau, in: RAG Aktiengesellschaft (Hrsg.): Aus dem Dunkel ins Licht, Essen o. J., S. 34-63.

 

Schulenburg, Tisa von der: Menschen vor Ort. Zeichnungen aus dem Bergbau. Ausstellung im Deutschen Bergbau-Museum Bochum vom 11. Mai bis 12. Juni 1977, Bochum 1977.

 

Schulenburg, Tisa von der: Meine dunklen Brüder. Als Bildhauerin unter Bergarbeitern, Freiburg/Basel/Wien 1984.

 

Türk, Klaus: „Labor omnia vi(n)cit.“ Arbeit ist Kampf. Wandlungen und Inversion eines kulturellen Leitbildes, in: Türk, Klaus (Hrsg.): „Die Organisation der Welt“. Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft, Opladen 1995, S. 249-286.

 

Ullrich, Ferdinand: Kunst und Moral im Widerstreit. Das Werk der Tisa von der Schulenburg, in: RAG Aktiengesellschaft (Hrsg.): Aus dem Dunkel ins Licht, Essen o. J., S. 12-33.