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Ein Taschenrechner im Dunkeln

Auf einer Konferenz der Internationalen Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen im Jahre 1997 prägte Terry Kuny den Begriff des „Dunklen Zeitalters der Digitalisierung“. In seinem Vortrag äußerte er die Befürchtung, dass die Bewahrung des digitalen Kulturerbes in Gefahr sei und dringend Strategien und Richtlinien zur Erhaltung der so flüchtigen digitalen Daten entwickelt werden müssten. Ein programmierbarer Taschenrechner in den Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) zeigt auf, wie diese digitale Vergänglichkeit Museen, Archive oder Bibliotheken auch heute noch vor große Herausforderungen stellt.

Bei dem erwähnten Taschenrechner handelt es sich um das Modell „HP-41CV“ des Herstellers Hewlett-Packard (montan.dok 030007397001). Schon dessen Vorgängermodell, der 1979 eingeführte „HP-41C“, war in einer Rezension der Computerzeitschrift „BYTE“ als das vielseitigste Gerät aller Zeiten bezeichnet worden. Diese Vielseitigkeit zeigte sich insbesondere in der Fülle von Peripheriegeräten wie beispielsweise einem Thermodrucker oder einem Magnetkartenleser. Durch diesen konnten auf Magnetkarten gespeicherte Daten und Programme eingelesen werden. Nicht unüblich zu dieser Zeit war außerdem das Abdrucken umfangreicher Quellcodes in Büchern und Zeitschriften, die interessierte Nutzer:innen dann – hoffentlich ohne Tippfehler – abschreiben konnten. Dass diese Programme anschließend auch nach dem Ausschalten des Taschenrechners auf dem Gerät gespeichert blieben, war damals noch ein recht neues Feature.

 

Als nahezu revolutionäres Leistungsmerkmal wurde – man mag es sich heutzutage kaum vorstellen – die Fähigkeit angesehen, auf dem Display nicht nur Zahlen, sondern auch Buchstaben und Sonderzeichen darstellen zu können. Dies trug erheblich zur Verbesserung der Mensch-Maschine-Interaktion bei. Neben den eingebauten Rechenfunktionen und Programmierfähigkeiten ermöglichte der HP-41 zudem das „synthetische Programmieren“. Mit dieser fortgeschrittenen Programmiertechnik konnten die Möglichkeiten des Taschenrechners noch einmal deutlich erweitert werden. Eines der berühmtesten Anwendungsszenarien des HP-41 war dessen Einsatz in frühen Spaceshuttle-Missionen. Bei einem Ausfall der Kommunikation mit der Bodenkontrollstation hätte beispielsweise mithilfe eines speziell dafür geschriebenen Notfallprogramms ein Spaceshuttle trotzdem sicher gelandet werden können.

 

Ob nun in der Dunkelheit des Weltraums oder in der Dunkelheit unter Tage: Ein Taschenrechner könne bestimmt in beiden Fällen Menschenleben retten, dachten sich möglicherweise die klugen Köpfe in der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen beim Steinkohlenbergbauverein. Jedenfalls kauften sie 1982 jenen HP-41CV, der heute im montan.dok bewahrt wird. Im Jahr 1981 war das Handbuch „Beurteilung der Analysenergebnisse von Grubenbrandgasproben“ neu aufgelegt worden, das im Falle von Brand- oder Explosionsereignissen im Steinkohlenbergbau zur Anwendung kommt. In diesem Zusammenhang wurden sowohl für den HP-41 als auch für das Taschenrechnermodell „TI-59“ von Texas Instruments Brandgasprogramme entwickelt, um möglichst schnell sicherheitsrelevante Berechnungen durchführen zu können.

 

Bei der Analyse von Grubenbrandgas werden im Labor die Anteile von Methan, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Sauerstoff und Wasserstoff in einer Probe bestimmt. Stickstoff und Edelgase werden zudem als Differenz errechnet. Auf Grundlage dieser Ergebnisse können wiederum die so genannten Brand- (BKZ) und Explosionskennziffern (EKZ) sowie der Kohlenmonoxid-Volumenstrom ermittelt werden. Die Taschenrechner kamen bei der recht komplexen Berechnung von – auch als „Explosionsdreiecke“ bezeichneten – Coward-Diagrammen zum Einsatz. All diese Maße dienen der Beurteilung des Brandumfangs, der Brandentwicklung, der Bedrohung durch Kohlenmonoxidvergiftungen und der Explosionsgefahr.

 

Einige Jahre später wurden die Taschenrechner durch PCs und das Programm „GRUBRA“ abgelöst. 2013 gelangte der nun weitestgehend obsolete HP-41CV mit einigen ebenso nicht mehr benötigten Peripheriegeräten und Speichermedien in die Musealen Sammlungen des montan.dok. Als Objekt des digitalen Zeitalters ist es im Besonderen durch seine Hybridität gekennzeichnet. Einerseits ist der Taschenrechner in Form der Hardware ein materielles Objekt, andererseits charakterisieren die darauf gespeicherten Daten und Software ihn auch als ein immaterielles Objekt. Die auch heute noch in den meisten Museen übliche Sammlungspraxis, die sich klassischerweise auf die bloße physische Gestalt eines Objekts fokussiert, wird dieser Hybridität nicht gerecht. Um das eingangs erwähnte „Dunkle Zeitalter der Digitalisierung“ abwenden zu können, muss daher ein Umdenken stattfinden und langfristige Bewahrungsstrategien entwickelt werden.

 

Die Bewahrung digitaler Daten und Programme ist vor allem wegen der begrenzten Lebensdauer elektronischer Geräte und Speichermedien eine große Herausforderung. Hierbei ist sicherlich die sachgemäße Erhaltung funktionsfähiger historischer Hardware wichtig, aber alleine nicht ausreichend. Zentrales Standbein der digitalen Langzeitarchivierung ist die Migration, also die Übertragung der Daten von den nicht mehr gebräuchlichen auf zeitgemäße Speichermedien und in offene Dateiformate. Da moderne Speichermedien jedoch demselben Problem der Kurzlebigkeit unterliegen, muss dieser Prozess andauernd wiederholt werden. Möchte man die Programme und Software ohne die Originalhardware ausführen, können gegebenenfalls Emulatoren verwendet werden, die die ursprünglichen Systeme nachbilden. Für den HP-41 existiert beispielsweise ein Emulator als Smartphone-App, die im Google Play Store erhältlich ist.

 

Wer den HP-41(-Emulator) nun ausprobieren und damit programmieren möchte, wird sich darüber freuen, dass im montan.dok zudem die dazugehörigen Bedienungsanleitungen und Handbücher aufbewahrt werden. Zumindest auf den ersten Blick ist nämlich keine große Ähnlichkeit mit den heute gängigen Rechnern und Programmiersprachen zu erkennen. Dort sind auch einige Programmbeispiele vorzufinden, die auf einem äußerst langlebigen Speichermedium festgehalten wurden: Papier.

 

01. März 2022 (Andreas Ketelaer, M. Sc.)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum (DBM) 030007397001

 

Carbrey, Bruce D.: A Pocket Computer? Sizing up the HP-41C, in: BYTE 5/12, 1980, S. 244-262.

 

Hayes, Brian P.: The HP-41C: A Literate Calculator?, in: BYTE 6/1, 1981, S. 118-138.

 

Hermülheim, Walter u. a.: Handbuch für das Grubenrettungswesen im Steinkohlenbergbau, Essen 2007.

 

Jarett, Keith: HP 41 in Orbit, in: Professional Computing 1/4, 1984, S. 50-54.

 

Kudrass, Eva: Objekte des digitalen Zeitalters im Museum, in: Museumskunde 83, 2019, S. 4-11.

 

Kuny, Terry: A Digital Dark Ages? Challenges in the Preservation of Electronic Information, in: International Federation of Library Associations and Institutions. Unter: http://archive.ifla.org/IV/ifla63/63kuny1.pdf (Eingesehen: 10.02.2022).

 

Steinkohlenbergbauverein: Beurteilung der Analysenergebnisse von Grubenbrandgasproben, Essen 1981.

 

Wickes, William C.: Synthetic Programming on the HP-41C, Corvallis 1980.

 

Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches+Dokumentationszentrum&ref=242271 und museum-digital. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1071269 (Eingesehen: 10.02.2022).

 

Mein Dank gilt Prof. Dr. Walter Hermülheim für detaillierte Auskünfte über die Auswertung und Analyse von Grubenbrandgasproben.