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Ein Kompass an der Leine

Der Gebrauch eines Magnetkompasses ist heute weitgehend aus dem Alltag verschwunden. Bewegt man sich in unbekanntem Gelände, so nutzt man meist moderne, via Satellit betriebene GPS-Systeme. Dass dies über viele Jahrhunderte anders war, dafür liefert das bergbauliche Vermessungswesen, die so genannte Markscheidekunde, ein anschauliches Beispiel. Der hier vorgestellte Hängekompass aus Messing verweist zurück in das 17. Jahrhundert und zählt mit seiner eigentümlichen Konstruktion zu den wichtigen Innovationen im Vermessungswesen dieser Zeit.

Unter Markscheide versteht man die Grenze zwischen zwei Bergwerksfeldern. Eine Orientierung an festen Punkten ermöglicht die Planung und Anlage des Grubenbaues, den wirtschaftlichen Abbau von Lagerstätten und eine Festlegung von Besitzverhältnissen. Diese Messergebnisse bilden die Grundlage einer kartographischen Darstellung mittels Plänen und Grubenrissen. Auch im 16. und 17. Jahrhundert beruhte der Erzbergbau – Kohle spielte erst ab dem 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle – auf der planmäßigen Anlage von Schächten und Stollen, oder in den Worten des von Balthasar Rösler (1605-1673) und Johann Christoph Goldberg 1700 veröffentlichten Buches „Speculum Metallurgiae Politissimum, Oder Hell-polierter Berg-Bau-Spiegel“: „Marckscheiden / ist / eine Kunst / Stöllen und Gruben-Gebäude unter der Erden / oder über der Erden / mit ihren Winckeln abzustecken / die gerade Teuffe vom Tage auff einen Ort zu weisen / wie weit 2 Oerter der geraden Linie nach / von einander abgelegen / und wie viel eines höher ist / als das andere.“

 

Um Winkel zu messen, bediente man sich zweier Instrumente. So wurde für die vertikalen Winkel ein Hängezeug mit Gradbogen verwendet, dessen Gebrauch aus einem Kupferstich mit Szenen aus dem polnischen Salzbergwerk Wieliczka aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zu erkennen ist (montan.dok 030004895001). Für die Bestimmung des horizontalen Winkels waren dagegen einfache Setzkompasse in Gebrauch. Mit Hilfe einer daran befestigten Leine ließ sich so die Abweichung von der Nordrichtung bestimmen. Alle diese Messwerte dienten später als Grundlage für die Herstellung von Grubenkarten und Grubenrissen, in denen die Lage von Schächten und Stollen angegeben war.

 

Doch erwies sich ein auf diese Weise verwendeter Kompass als unpraktisch. Denn bei den engen Verhältnissen unter Tage war ein genaues Ablesen des Gradkreises ebenso wie eine horizontale Lagerung des Instruments kaum möglich. Abhilfe schuf ein neuartiger Hängekompass, von dem sich eines der wenigen erhaltenen frühen Exemplare in den Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) im Deutschen Bergbau-Museum Bochum befindet: der auf die Zeit um 1700 datierte „Hängekompass mit Stundeneinteilung aus Messing“ (montan.dok 030015045001). Hier ist das Kompassgehäuse über einen Ring in der Horizontalachse drehbar gelagert, wobei sich die ganze Konstruktion in eine gespannte Messleine, die auch die zu vermessende Richtung angibt, einhängen lässt. Gleichzeitig richtet sich das Kompassgehäuse, sollte die Leine schräg gespannt sein, durch ihr Eigengewicht immer in der Waagerechten aus. Auch sind über eine Gradteilung an einem der Ringe die vertikalen Winkel ablesbar, womit der Kompass als ein Hängezeug funktioniert. Nicht zuletzt lässt sich das Kompassgehäuse herausnehmen und als „normaler“ Kompass verwenden. Diese überaus praktische Konstruktion wurde erstmals 1686 in Nicolas Voigtels „Geometria Subterranea“ in Bild und Text beschrieben. Sie gilt als eine wichtige Innovation im bergbaulichen Vermessungswesen der Frühen Neuzeit.

 

Die Provenienz des Objekts aus dem montan.dok ist weitgehend unbekannt. Sicher ist, dass es 1938 zusammen mit einem baugleichen Kompass (montan.dok 030015046001) aus der Abteilung Markscheidekunde der Westfälischen Berggewerkschaftskasse (WBK) in die Sammlungen des damaligen Bochumer Bergbau-Museums gelangte. Die Inventarliste vermerkt dazu: „1 altes Kreuzhängezeug mit Stundeneinteilung und Höhenkreis unbekannter Herkunft. Kompaßglas beschädigt“.

 

Der Hängekompass ermöglicht, bezogen auf die magnetische Nordweisung, die Bestimmung von Horizontalwinkeln. Die frei bewegliche Nadel im Gehäuse kreist innerhalb eines Ringes, der die Himmelsrichtungen angibt: SE (lat. septentrionalis) für den Norden, ME (lat. meridianus) für den Süden, OR (lat. orientalis) für den Osten und OC (lat. occidentalis) für den Westen. Der Ring selbst ist wiederum in zweimal 12 Stunden unterteilt. Denn bei einer üblichen Einteilung in 360 Grad wäre bei dem geringen Durchmesser der Kreisscheibe eine genaue Ablesung nur schwer möglich. Der Bau eines solchen Instruments war demnach ein Kompromiss zwischen Handlichkeit und Genauigkeit. Noch 1749 bemerkt der Berghauptmann und Markscheider Friedrich Wilhelm Oppel (1720-1769), dass das Gehäuse groß genug sein müsse, „damit die Nadel so wohl recht beweglich und schnell sey, als auch wenigstens die sechzehn Theile einer Stunde genau angebe und diese auf dem Compasse richtig bemerket werden können.“ Bei den wenigen schwachen Lichtquellen unter Tage war eine Ablesung in jedem Fall schwierig, wie etwa das Bild  einer Grubenvermessung (montan.dok 033303732001) des französischen Malers François Bonhomme (1809-1881) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt.

 

Auffällig ist zudem, dass die Stunden links statt rechtsläufig aufgetragen sowie Ost und West vertauscht sind. Beides ermöglicht eine direkte Ablesung, da beim Hängekompass der Gradkreis, je nach Ausrichtung der Leine, sich an der Nadel vorbeibewegt. Denn der Hängekompass ist ein Instrument zur Winkel- und nicht zur Richtungsbestimmung.

 

Seine Einführung wird heute allgemein dem Markscheider Balthasar Rösler zugeschrieben. 1605 in Heinrichsgrün (heute Jindřichovice/Tschechien) geboren, wurde Rösler 1632, mitten im Dreißigjährigen Krieg, Markscheider im Bergamt von Marienberg in Sachsen und wechselte nach weiteren Stationen auf die Stelle eines Bergmeisters und Markscheiders in Altenburg, wo er 1673 starb. Wenngleich das Markscheidewesen dieser Zeit auf geometrischen und mathematischen Verfahren beruhte, waren Markscheider wie Rösler vor allem praktische Bergleute. Die Geometria Subterranea war praktische Mathematik, und die auf Deutsch verfassten Anleitungen wandten sich an Bergleute und nicht an Gelehrte. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt es Anzeichen für eine Mathematisierung der Markscheidekunde. So richtete die 1765 gegründete Bergakademie Freiberg einen Lehrstuhl für Mathematik ein. Gegen Ende des Jahrhunderts erschienen die ersten von Mathematikern verfassten Lehrbücher zum Thema.

 

Nach 1800 kam der Hängekompass als Instrument zur Winkelmessung langsam außer Gebrauch. An seine Stelle trat der Theodolit, der als Standardinstrument bei der Landvermessung schnell Eingang in den Bergbau fand. Mit seinem Fernrohr basierte er auf optischen Visierlinien und ermöglichte damit weitaus genauere Messungen. Zur Richtungsbestimmung wurde der Kompass jedoch weiterhin verwendet. Erst der zunehmende Einbau von Eisen und Stahl unter Tage und die dadurch verursachte Missweisung machte neue Instrumente erforderlich. Der in den 1950er-Jahren eingeführte Meridianweiser basierte auf der kurz nach 1900 eingeführten Kreiseltechnik, die unabhängig von äußeren magnetischen Einflüssen zuverlässig die Nordrichtung wies (montan.dok 030007487001).

 

Der Hängekompass lässt sich nur im Zusammenhang einer langen Geschichte des wechselseitigen Einflusses von praktischem und theoretischem Bergbauwissens verstehen. Der umfangreiche Bestand des montan.dok an Instrumenten, Grubenrissen, archivischen Beständen sowie historischer Literatur erlaubt es, dieser Geschichte genauer nachzugehen.

 

01. April 2023 (Dr. Stefan Siemer)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 112/1784

 

Börsch, Otto: Theodolite, Astronomische Instrumente und Bussolen-Apparate des mathematisch-mechanischen Institutes F. W. Breithaupt & Sohn in Cassel, ihre Beschreibung, Prüfung, Berichtigung und Anwendung, mit einer Einleitung über Theodolite im Allgemeinen, Kassel 1876.

 

Brathuhn, Otto: Lehrbuch der praktischen Markscheidekunst unter Berücksichtigung des Wichtigsten aus der allgemeinen Vermessungskunde, Leipzig 1902.

 

Kirnbauer, Franz: Die Entwicklung des Markscheidewesens im Lande Österreich, Wien 1940 (= Blätter für Technikgeschichte, Bd. 7).

 

Klinger, Kerrin/Morel, Thomas: Was ist praktisch am mathematischen Wissen? Die Positionen des Bergmeisters J. A. Scheidhauer und des Baumeisters C. F. Steiner in der Zeit um 1800, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaft, Technik und Medizin, Bd. 26, 2018, S. 267-299. DOI https://doi.org/10.1007/s00048-018-0197-8.

 

Meixner, Heinz/Schellhas, Walter/Schmidt, Peter: Balthasar Rösler. Persönlichkeit und Wirken für den Bergbau des 17. Jahrhunderts. Kommentarband zum Faksimiledruck „Hell-polierter Berg-Bau-Spiegel“, Leipzig 1980.

 

Oppel, Friedrich Wilhelm: Anleitung zur Markscheidekunst nach ihren Anfangsgründen und Ausübungen kürtzlich entworfen, Dresden 1749.

 

Rösler, Balthasar: Speculum Metallurgiae Politissimum. Oder: Hell-polierter Berg-Bau-Spiegel, Dresden 1700.

 

Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=60505, https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=59465, https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=68533, https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=250040 und museum-digital. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1067332, https://nat.museum-digital.de/object/1068586, https://nat.museum-digital.de/object/1071563 sowie Deutsche Digitale Bibliothek. Unter: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/K7B6LR6XDJMD6KAC6EBFEUH4AKW3TGXY, https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/OOCEG6BDOW4FB73BIQS6LCKHGAMFM52P, https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/ZMPYLNL5PDFJGMB3A4XJCYX2A3VRYGTH (Eingesehen: 13.02.2023).