Das Bergwerk als Tatort: Quellen zu einer Kriminalgeschichte des Ruhrbergbaus
Wir schreiben den 22. Januar 1920. Es ist noch dunkel, als das „Löhnungsautomobil“ der Bochumer Zeche Constantin plötzlich gegen sieben Uhr früh an der Kreuzung Hiltroper und Tippelsberger Straße zum Stehen kommt. Quer über den Weg ist ein 16 Meter langes Stahldrahtseil gespannt, das die Weiterfahrt blockiert. Drei bewaffnete Männer stürzen auf das Auto zu, bedrohen die Geldboten und zwingen sie, ihnen die mitgeführten Geldkassetten und eine ebenfalls mit Geld gefüllte Ledertasche auszuhändigen. Dann fliehen sie „nach dem nahen Wäldchen in der Bachniederung, die sich von Hiltrop nach der Wirtschaft Zillertal hinzieht“, wo sie die Kassetten aufbrechen und sich mit den erbeuteten 337.580 Mark davonmachen, entweder zu Fuß oder mit der Straßenbahn.
Dies alles ist einem Fahndungsplakat der Polizei-Direktion Bochum, Kriminal-Abteilung, zu entnehmen, das sich in der archivischen Spezialsammlung montan.dok/BBA P: Plakate und Flugblätter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museums Bochum befindet (montan.dok/BBA P 15). Zusätzlich zu der etwas reißerischen Überschrift „30.000 M. Belohnung! Räuberischer Überfall!“ sticht auf dem Plakat graphisch vor allem die Abbildung der von den Räubern hinterlassenen Hilfsmittel hervor – neben der gestohlenen Ledertasche das Ende des Drahtseils, Schlauchklemmen und ein Seilhaken. Das Drahtseil war zuvor aus dem Materialschuppen der Zeche Lothringen IV entwendet worden, vermutlich auch die Schlauchklemmen, während der Seilhaken wohl in einer Zechenschmiede „zu dem bestimmten Zwecke extra“ angefertigt worden war. Auch mussten die Täter mit Blick auf den Zeitpunkt und die Uhrzeit des Geldtransports über interne Kenntnisse verfügt haben. Es liegt also nahe, dass es sich bei ihnen selbst um Bergleute gehandelt haben dürfte.
Aus den vorliegenden Quellen geht leider nicht hervor, ob der Überfall aufgeklärt werden konnte. Aber das Plakat wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich Bergbaubetriebe, deren Belegschaftszahlen nach 1900 rasch in die Tausende gingen, mit dem Risiko von Diebstahl und anderen Verbrechen auseinandersetzten. Dabei verlief die Entwicklung eines entsprechenden Sicherheitsdenkens schrittweise. Insbesondere die Zahlungen an Lohntagen und die Aufbewahrung der dafür nötigen Summen brachten Sicherheitsprobleme mit sich und waren zugleich eine logistische Herausforderung. Das betraf vor allem grundsätzliche Vorkehrungen. Auf der Zeche Concordia etwa wurde zwar ein „absolut diebessicherer Geldschrank“ angeschafft, dieser wurde aber – laut einer vertraulichen Umfrage unter benachbarten Schachtanlagen im Jahr 1907 – nicht extra bewacht, da man darauf vertraute, dass die im Haus wohnende Familie eines Zechen-Angestellten „jedes Geräusch“ höre. Auf anderen Schachtanlagen ging man dagegen dazu über, in den Verwaltungen „feuer- und diebessicherer Kassengewölbe“ einzubauen und zusätzlich für die Bewachung durch einen oder mehrere bewaffnete Nachtwächter samt Wachhunden zu sorgen (montan.dok/BBA 32/4291). Auch Tageszeiten und Arten des Transports wollten – vor dem Einzug des Automobils – mitbedacht sein. Im November 1909 hieß es innerhalb des Hibernia-Konzerns, das Geld müsse „teilweise zum Kutscher auf den Bock gesetzt werden“, weil durch die „schweren Geldbehälter“ der „Wagenboden durchgedrückt werde und die Gelder auf die (sic!) Straße zu liegen kämen“ (montan.dok/BBA 32/4292).
Seit den 1920er-Jahren wurden vermehrt eigene Abteilungen für den Werkschutz eingerichtet. Schon zuvor hatte es besonders im Falle von Streiks bewaffnete Zechenwehren gegeben, die im Konfliktfall gegen protestierende Arbeiter eingesetzt werden sollten. „Neben der Schusswaffe“ halte er „eine Hiebwaffe“ zur Ausrüstung solcher Wehren „für unerlässlich“, schrieb etwa der Landrat von Moers an den Direktor der gerade in Förderung gehenden Zeche Friedrich Heinrich 1911 (Moitra: Tief Im Westen, S. 109). Nun wurden diese Einheiten verstetigt, sollten aber neben den befürchteten Aktivitäten der Arbeiterbewegung auch etwaige kriminelle Unregelmäßigkeiten im Betriebsablauf in den Blick nehmen. Dazu gehörten etwa Lohngeldraub, Diebstähle auf dem Betriebsgelände, Bestechungsversuche oder auch so genannte Kohlenschiebungen in Form des privaten Verkaufs von Deputatkohle durch Zechenmitarbeiter.
Letztlich kam es aber auf Vertrauen an, wie ein Fall bei der Königlichen Bergwerksinspektion in Gladbeck bereits im Jahr 1909 illustriert. Dabei handelte es sich um die Verwaltung der Zechen Möller und Rheinbaben, die seit 1902 dem preußischen Staat gehörten und zusammen mit anderen Schachtanlagen der Königlichen Bergbaudirektion Recklinghausen unterstanden (montan.dok/BBA 32: Bergwerksgesellschaft Hibernia AG). In der Nacht vom 04. auf den 05. November 1909 wurden aus dem gerade erst eingebauten Tresor 279.190 Mark entwendet. Weder der Tresor oder die neu eingerichtete Panzertür zwischen Kassenzimmer und Kassengewölbe noch sonst irgendeine Tür waren gewaltsam aufgebrochen worden. Die Täter hatten sich offenbar sämtliche Nachschlüssel besorgen können. Diese Schlüssel stehen – auch visuell – im Zentrum eines weiteren Fahndungsplakats, das ebenfalls aus der Sammlung Plakate und Flugblätter stammt (montan.dok/BBA P 143). Dieser Fall ist in den Akten gut dokumentiert und lässt sich entsprechend nachverfolgen. Demnach wurden die Täter vergleichsweise rasch ermittelt. Es handelte es sich um einen Schichtmeister, der selbst für die Auszahlung der Lohngelder zuständig war und um einen Maschinensteiger der Möller-Schächte. Wie sich herausstellte, hatten beide schon zuvor Lohnscheine gefälscht, um regelmäßig Geld zu hinterziehen, und konnten nun offenbar der Versuchung nicht widerstehen, sich auf einen Schlag um eine große Summe zu bereichern. Der Fall zeitigte aber noch weitere Konsequenzen, denn da nicht das gesamte entwendete Geld wiederaufgetaucht war, wurden für die Restsumme von 13.545 Mark die Vorgesetzten des Haupttäters haftbar gemacht, ein weiterer Schichtmeister, ein Oberschichtmeister sowie der Direktor der Gladbecker Schachtanlagen, Oberbergrat Franz von Meer. Sie prozessierten noch bis 1916, um zu beweisen, dass sie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen seien, aber lediglich der Zechendirektor wurde am Ende freigesprochen.
Die im Rahmen des Projekts „Digitale Infrastrukturen im Deutschen Bergbau-Museum Bochum und virtuelle Zugänglichkeit zum Bergbauerbe“ erschlossene und digitalisierte archivische Spezialsammlung Plakate und Flugschriften ist ein Fundus faszinierender Quellen, die auch Aspekte der bergbaubezogenen Sozialgeschichte beleuchten, die ansonsten leicht übersehen werden. Strafdelikte gehören ebenso dazu wie allgemein- und betriebspolitische Kontexte, Sexual- und Hygieneaufklärung oder auch kulturelle Bemühungen der Bergbaukonzerne und -verbände.
01. Oktober 2023 (Dr. Stefan Moitra)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) P 15, P 143, 32/4291-4298
Moitra, Stefan: Tief im Westen. Ein Jahrhundert Steinkohlenförderung am linken Niederrhein. Von Friedrich Heinrich zum Bergwerk West, Bochum 2012 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 186; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 25).
Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=234424; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=234551 und museum-digital. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1351648; https://nat.museum-digital.de/object/1351746 (Eingesehen: 26.09.2023).