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Auf das Innere kommt es an

Die Stereopanoramen im Deutschen Bergbau-Museum Bochum sind seit ihrer Anschaffung eine beliebte Attraktion der Dauerausstellung. Doch was steckt hinter oder besser gesagt in den ungewöhnlichen Metallkisten? Und woher stammt Europas größte Sammlung von bergbaubezogenen Stereofotografien überhaupt?

Im Juni 1936 wurde für den Preis von 1550,00 Reichsmark bei der Firma Peter Koch in Köln-Nippes ein Stereo-Betrachtungsapparat (montan.dok 030005448001) gekauft. Dieses Gerät sollte für die Besuchenden des damaligen Bochumer Bergbau-Museums das Fenster in eine unbekannte und nur medial erfahrbare Welt des Bergbaus eröffnen. Zwölf Besuchende konnten gleichzeitig an den ovalen Augenmuscheln Platz nehmen und dank der Stereoskopie an sonst abgeschlossene Welt des Bergbaus vordringen. Das Konzept gefiel dem Publikum so gut, dass bis in die 1950er-Jahre hinein weitere Betrachtungsapparate angeschafft wurden. Während die Apparate vergleichsweise gut dokumentiert wurden, standen eine eingehende Dokumentation und Untersuchung der Herkunft für die über 2.000 Stereoaufnahmen in der Sammlung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum lange Zeit aus.

 

Im Kontext der Fotosammlung Stereofotografie des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museums Bochum ist eine Liste vom 30. Oktober 1934 überliefert (montan.dok/BBA 112/6403). Hier wurden Stereoaufnahmen in sachthematische Gruppen gegliedert. Die Kategorien „Tagesanlagen“ und „Unter Tage“ wurden weiter ausdifferenziert: Unter dem Stichwort „Tagesanlagen“ wurden Aufnahmen von Zechenansichten, Förder- und Kokereieinrichtungen zusammengefasst. Den größeren Teil dieses Konvolutes bilden untertägige Aufnahmen mit Augenmerk auf Streckendarstellungen, Schächte und den Abbau.

 

Dieses Dokument scheint die Keimzelle der europaweit größten Sammlung an Stereofotografien mit Bergbaubezug zu beschreiben. Die Herkunft der Liste ist zwar nicht eindeutig belegt, es ist jedoch davon auszugehen, dass sowohl Nummerierung als auch Klassifikation auf den Stifter, den Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund (Bergbau-Verein), zurückgehen. Für diese Annahme sprechen die vergebenen Signaturen innerhalb der Liste.

 

Bis August 1939 wuchs die Sammlung Stereofotografie auf über 1.000 Stereopositive an. Neben dem bereits erwähnten Bergbau-Verein lieferten weitere namhafte Unternehmen und Einrichtungen Stereofotografien an das Museum, die in die Sammlung integriert wurden. Zugleich wurde in Listen dokumentiert, welche Stellen welche Stereos lieferten. Vor allem Bergbauzulieferer, wie die Gebr. Eickhoff Maschinenfabrik und Eisengießerei, die Bochumer Eisenhütte Heintzmann, Westfalia-Lünen oder die Flottmann-Aktiengesellschaft stifteten dem Museum zahlreiche Aufnahmen. Dies geschah vermutlich nicht uneigennützig: Auf den meisten Aufnahmen sind Produkte der Stifter in ihren vorgesehenen Funktionen in Szene gesetzt. Auf diese Weise konnte die Präsentation im Stereo-Panorama zugleich als Produktwerbung genutzt werden.

 

Zu den anfänglichen 171 Stereofotografien des Bergbau-Vereins kamen bis August 1939 weitere 370 Aufnahmen gleicher Provenienz hinzu. Einen signifikanten Anteil an den neu hinzugekommenen Aufnahmen bildete ein Konvolut zum Thema Ausbildung und Nachwuchs. Motive dieser Serie zeigen Bergjungleute und -lehrlinge in vermeintlich alltäglichen Situationen. Besonders auffällig ist eine Serie von Aufnahmen Jugendlicher bei gemeinschaftlichen Turnübungen (z. B. montan.dok 120160019801). Alle Bilder entstanden in Sporthallen und zeigen Bergjungleute mit freiem Oberkörper in athletischen Posen beim Ausführen von Turnübungen. Auf mehreren Bildern sind Retuschen erkennbar. Vermutlich wurden an diesen Stellen nationalsozialistische Symboliken oder Portraits von Nationalsozialisten wegretuschiert, um die Aufnahmen auch nach 1945 dem Publikum zeigen zu können.

 

Der professionelle Charakter der Aufnahmen und die photographische Qualität weisen diese Bilder als inszeniert aus. Der Fotograf Johann Schmidt benutzte in seinen Aufnahmen eine klare Bildsprache, um zeitgenössische Tugenden, wie Kameradschaft, Athletik, Folgsamkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl, darzustellen. Diese Bilder fügen sich nahtlos in die Darstellung vermeintlich alltäglicher Realitäten von Bergjungleuten ein. Die Motive zeigen vorwiegend leichte körperliche Tätigkeiten, die nicht mit den Arbeiten zu vergleichen sind, die unter Tage zu erwarten waren. Weit mehr als die Hälfte der Aufnahmen zeigen Arbeits- und Freizeitsituationen über Tage. Hervorzuheben ist auch die große Menge an Aufnahmen im Speisesaal und beim gemeinschaftlichen Essen (z. B. montan.dok 120160034301). Unter Tage werden nur selten schwere körperliche Arbeiten dargestellt, meistens sieht man Bergjungleute neben Meistern oder Steigern (z. B. montan.dok 1201600287).

 

Diese Bilder, eindeutig zur Rekrutierung neuer Auszubildender gedacht, suggerierten den potentiellen Nachwuchsbergleuten eine gute Versorgung, Kameradschaft unter und über Tage, vergleichsweise leichte Arbeiten und eine sichere Sozialstruktur. In der Ausbildung fanden die Stereofotografien ein weiteres Anwendungsgebiet als Anschauungsmaterial, um die Berglehrlinge auf die Arbeitssituationen unter Tage vorzubereiten.

 

Seit den 1950er-Jahren wuchs die museumseigene Sammlung der Stereofotografien nicht nur durch Stiftungen weiter an. Museumsmitarbeitende bedienten sich der Technik, um weitere sonst unzugängliche Räume, wie verbrochene alte Baue oder archäologische Stätten, für die Museumsbesuchenden virtuell erlebbar zu machen. Bereits 1951 wurden im südlichen Waldeck Stereoaufnahmen nachweislich vom Museumsfotografen Karl Block angefertigt. Neben alten Stollenbauen wurde der Braunkohlentagebau Altenburg II fotografisch festgehalten. In den nächsten Jahren folgten weitere Aufnahmen, auch zu Dokumentationszwecken. 1956 dokumentierte Steiger und Kustos Julius Raub beispielsweise die Befahrung des jungsteinzeitlichen Feuerstein-Bergbaus in Spiennes, Belgien.

 

Ab den 1970er-Jahren wurden neben den Gehäusen auch die Inhalte der Stereobetrachtungs-Apparate bunter. Die Fotografen des Museums und der Westfälischen Berggewerkschaftskasse (WBK), Karl Block und Herbert Kaspar, führten eine Aufnahmekampagne in Bülten und Lengede durch. Es entstanden Farbbilder von unter und über Tage, von Abbau, Förderung, Aufbereitung und den Tagesanlagen der Erzbergwerke. Eine weitere Serie von farbigen Aufnahmen zeigt das ehemalige Zollern-Institut und die Zeche Zollern in den 1980er-Jahren. Diese durchgehend übertägigen Fotografien dokumentieren sowohl das industrielle Kulturerbe als auch die Einrichtungen der WBK. Neuere Bilder zeigen Ausstellungssituationen, Exponate und Ansichten des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, eine Serie von 27 Aufnahmen besonders wertvoller Porzellanplastiken aus dessen Sammlung. Die einzeln aufwändig fotografierten Figuren geben Bergleute in Uniform und verschiedene bergmännisch gekleidete Putten wieder.

 

Im Verlauf der durch die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderten Programms NEUSTART KULTUR durchgeführten retrospektiven Digitalisierung der „Fotosammlung Stereofotografien“ des Deutschen Bergbau-Museums Bochum konnte ein Großteil der Sammlung jüngst digitalisiert werden. Diese in der Vergangenheit bereits öfter nachgefragten Quellen wurden somit online auf der Webseite des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) und im Portal museum-digital:Westfalen der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

 

01. Mai 2022 (Rodion Lischnewski)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 112/860, 112/937, 112/995, 112/1308, 112/2215, 112/6403, 112/6404

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030005448001, 030005448002, 030005448003, 030005448004, 030005448005

 

Brunke, Berthold: Die Werkstätten, in: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum Bochum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bd. 2, Bochum 2005 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 134), S. 587-612.

 

Farrenkopf, Michael: Stereo-Panoramen des Deutschen Bergbau-Museums Bochum: Objekte zur Entdeckung einer authentischen Arbeitswelt des Bergmanns, in: Eser, Thomas u. a. (Hrsg.): Authentisierung im Museum. Ein Werkstatt-Bericht, Mainz 2017 (= RGZM – Tagungen, Bd. 32), S. 69-81; zugleich online unter: https://books.ub.uni-heidelberg.de/propylaeum/catalog/book/297 (Eingesehen: 26.04.2022).

 

Przigoda, Stefan/Lischnewski, Rodion: Über 2000 Stereofotografien Online, in: montan.dok-news 8, 2022, Heft 1, S. 3; online unter: https://www.bergbaumuseum.de/fileadmin/montan.dok/montan-dok-news/montandok-news-01-2022.pdf (eingesehen am 30.04.2022).

 

Przigoda, Stefan/Niggemann, Sabine/Lischnewski, Rodion: Erstellung eines Digitalisierungskonzeptes: Fremde Welten in 3D. Stereofotografien als Instrumente visueller Vermittlung von Industrie und Technik. Schlussbericht und Digitalisierungskonzept, Februar 2018, Publikationsfassung, Bochum 2019 online unter: https://www.bergbaumuseum.de/fileadmin/forschung/montanhistorisches-dokumentationszentrum/01UG1648X_VN_Gesamt_Schlussbericht-Digitalisierungskonzept_Publikationsfassung.pdf (Eingesehen: 26.04.2022).

 

Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches+Dokumentationszentrum&ref=290488, https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches+Dokumentationszentrum&ref=290633, https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches+Dokumentationszentrum&ref=290577 und museum-digital:westfalen. Unter: https://westfalen.museum-digital.de/collection/670, https://westfalen.museum-digital.de/object/23489, https://westfalen.museum-digital.de/object/23633, https://westfalen.museum-digital.de/object/23578 (Eingesehen: 26.04.2022).