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Nach China …

Die Suche nach Rohstoffen war eine wesentliche Triebkraft in dem „globalen Prozeß der europäischen Expansion über den Erdball, der seit dem 15. Jahrhundert in Gang gekommen war“ (Wolfgang Mommsen in Hinz/Lind 1998, S. 208) und im so genannten langen 19. Jahrhundert in das Zeitalter von Kolonialismus und Imperialismus mündete. Auch das Deutsche Kaiserreich ging 1884 zu einer aktiven Kolonialpolitik über. Neben innenpolitischen Gründen spielten hierbei auch wirtschaftliche Motive und nicht zuletzt die teils euphorischen Hoffnungen auf Gewinne durch die Ausbeutung von Rohstoffvorkommen eine Rolle. Seit den 1890er-Jahren verband sich mit der imperialistischen Expansion des Deutschen Reichs eine massive Aufrüstung. Ein Satz des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts und späteren Reichskanzlers Bernhard von Bülow (1849-1929) in der Reichstagsdebatte zum ersten Flottengesetz am 6. Dezember 1897 steht bis heute für diese Politik: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“ (Verhandlungen, S. 60).

Von der wenig ruhmreichen Kolonialgeschichte des Deutschen Reichs zeugen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok)/Bergbau-Archiv Bochum neben anderen zwei Akten der Gelsenkirchener Bergwerks-Aktiengesellschaft (montan.dok/BBA 55/317 und BBA 41/372), in denen die Beteiligung an den beiden Kolonialgesellschaften Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft und Schantung-Bergbau-Gesellschaft sowie die Verkokung und Brikettierung chinesischer Kohlen in den Laboren des Unternehmens ihren Niederschlag gefunden haben. Hinzu kommt das „China“-Album des Bergassessors Hugo von Königslöw (1868-1926) im Bereich Fotothek (montan.dok 020900176000). Es enthält eigene und zugekaufte Fotografien aus der Entstehungszeit der Kolonialstadt Tsingtau und von deren Hinterland sowie aus amerikanischen Bergrevieren. 

 

Ein Fokus des deutschen Expansionsstrebens in Asien lag auf China, das sich bis in das 19. Jahrhundert hinein weitgehend abgeschottet hatte. Mit den beiden Opium-Kriegen (1839-1842 und 1856-1860) und einem System „ungleicher Verträge“ wurde die Öffnung des Landes und seiner Märkte für den Freihandelsimperialismus westlicher Prägung gewaltsam erzwungen. Nach der Niederlage im chinesisch-japanischen Krieg 1895 schien China grundlegend destabilisiert. Dies befeuerte den Wettlauf der ausländischen Mächte um weitere Einflusssphären. Dabei rückten finanzimperialistische Interessen in den Vordergrund. Es galt, eine sichere Grundlage für gewinnbringende Investitionen in China zu schaffen. Ein Fokus richtete sich auf die industrielle Ausbeutung der dortigen Kohlevorkommen mit modernen westlichen Methoden als Voraussetzung und energetische Basis für die industrielle Entwicklung der Region unter deutscher Regie sowie für die militärische Präsenz im asiatischen Raum. 

 

Am 14. November 1897 besetzte die Reichsmarine die Bucht von Kiautschou (Jiaozhou) mit dem damaligen Fischerdorf Tsingtau (Qingdao) in der ostchinesischen Provinz Schantung (Shandong). Seit 1895 hatte die deutsche Diplomatie ohne Erfolg versucht, einen festen Stützpunkt als Basis für die deutsche Flotte und für die wirtschaftliche Durchdringung des Hinterlandes zu erlangen. Ende November 1897 lieferte die Ermordung zweier deutscher Missionare der Steyler Mission den willkommenen Anlass für die Besetzung. Mit Vertrag vom 6. März 1898 verpachtete China die Kiautschou-Bucht für 99 Jahre an das Deutsche Reich, räumte diesem weitere Sonderrechte im Hinterland und Konzessionen zum Bau zweier Eisenbahnlinien und zum Bergbau in einer Zone von 15 Kilometern beiderseits der Bahnlinien ein. 

 

Schon zuvor hatte ein Wettlauf mehrerer Investorengruppen um die Konzessionen eingesetzt. Ein Konsortium deutscher Großbanken kündigte dem Auswärtigen Amt bereits am 10. Februar 1898 offiziell an, dass sie „den Bergbau in der chinesischen Provinz Shantung in die Hand zu nehmen beabsichtigen“ und „unverzüglich Sachverständige zur Untersuchung der in Betracht kommenden Gebiete“ aussenden wolle (montan.dok/BBA 55/317). Am 14. Juni 1899 wurde die Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft und am 10. Oktober 1899 die Schantung-Bergbau-Gesellschaft gegründet. Bereits in der ersten Augusthälfte 1898 traf eine Gruppe deutscher Bergleute in Tsingtau ein, zu der auch Hugo von Königslöw gehörte. Sie sollte das Konzessionsgebiet erkunden und kam im Oktober 1899 zu einem zunächst vielversprechenden Ergebnis: „Fünf grosse Kohlenfelder, von denen jedes eine reichliche Zahl von Kohlenflötzen in passender Mächtigkeit und in Kohlenqualitäten enthält, die für jedweden Verwendungszweck, also für Kesselheizung, metallurgische Prozesse, Gasfabrikation etc. etc. geeignet sind“ (montan.dok/BBA 55/317), sowie eine Eisenerzlagerstätte waren gefunden worden, wobei die Steinkohlenfelder bei Weihsien (Weixian) und Poschan (Boshan) verkehrsgünstig nahe der geplanten Bahnlinie lagen. 

 

Die Eisenbahn war nicht nur für die Erschließung der Kohlenfelder, sondern auch für die Kolonialstadt Tsingtau und für die beabsichtigte Durchdringung des Hinterlandes eine elementare Voraussetzung. Bereits am 23. September 1899 begann der Bau und am 01. Juni 1904 wurde der Streckenabschnitt von Tsingtau nach Tsinanfu mit einer Nebenstrecke nach Poschan eröffnet. 

 

Dabei hatten Bahnbau und bergbauliche Exploration im Jahr 1900 aufgrund wachsender Unruhen in der Bevölkerung, die sich im Sommer 1900 im Aufstand der Boxer-Bewegung entluden, ausgesetzt werden müssen. In dieser Situation erzwang der Gouverneur der Provinz Schantung, Yuan Shikai, die im Pachtvertrag vorgesehenen, von deutscher Seite aber verzögerten Spezialabkommen zu Bahn- und Bergbau. Nach schwierigen Verhandlungen wurden im März 1900 zwei in weiten Teilen inhaltsgleiche Regulative zwischen der chinesischen Regierung und den beiden deutschen Unternehmen abgeschlossen, die letzteren gewisse Beschränkungen und Verpflichtungen auferlegten und Regularien zur Konfliktbeilegung enthielten. Das Bergbau-Regulativ sicherte überdies den Fortbestand der chinesischen Gruben im deutschen Konzessionsgebiet. Im Gegenzug verpflichtete sich der Gouverneur zum Schutz der deutschen Anlagen vor der eigenen Bevölkerung. Die Abkommen führten zu einer Stabilisierung der Verhältnisse und ermöglichten die Fortsetzung der Arbeiten. Sie markieren zugleich eine Neuausrichtung der chinesischen Politik. Die Kooperation mit den deutschen Kolonialunternehmen wurde durch die massive Unterstützung der einheimischen Konkurrenz begleitet und leitete somit einen „Prozeß des wirtschaftlichen Widerstandes“ (Leutner/Mühlhahn, S. 385) und der schrittweisen Aufhebung der deutschen Sonderrechte ein. 

 

Die Aufschlussarbeiten der Schantung-Bergbau-Gesellschaft konzentrierten sich zunächst auf das Weihsien-Revier, das seit September 1902 an der Station Fangtse (Fangxi) an die Bahnlinie angeschlossen war. 1901 begannen das Abteufen eines ersten Schachtes und die Errichtung der ersten Tagesanlagen. Im Herbst 1902 konnte die erste Kohle gefördert und per Bahn nach Tsingtau transportiert werden. Die Hoffnungen der Investoren wurden allerdings rasch empfindlich gedämpft, bestand die Förderung doch zu über 50 Prozent aus minderwertigen Kohlenqualitäten, die nur schwer absetzbar waren. Der wachstumsfördernde Konnex zwischen industrieller Produktion und industriellem Verbrauch des Energieträgers Steinkohle, der die Industrialisierung in Deutschland vorangetrieben hatte, konnte so kaum wirksam werden. 

 

In dem als bedeutsamer eingestuften Poschan-Revier begann der Aufbau des Bergwerks erst nach Fertigstellung der Bahnlinie. Seit dem 18. Juni 1904 wurde ein erster Schacht bei Tsetschuan abgeteuft, der 1907 die Förderung aufnahm. Bis 1911 wurden mindestens ein weiterer Schacht niedergebracht und die vorerst nur provisorischen Tagesanlagen ausgebaut, so dass die Produktion seit 1909 signifikant anstieg. Die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten wurden jedoch durch die Konkurrenz der chinesischen Bergwerke bedroht, deren Ausbau und Modernisierung durch die chinesische Regierung massiv unterstützt wurden. Die Proteste der Schantung-Bergbau-Gesellschaft dagegen scheiterten am zunehmend besser organisierten Widerstand der chinesischen Regierung, Behörden und Wirtschaftseliten in der Region. 

 

Angesichts dessen gab die Schantung-Bergbau-Gesellschaft ihre Konzessionen und Sonderrechte bis 1911 schrittweise auf. Zum 1. Januar 1913 wurde sie durch die Eisenbahngesellschaft übernommen ohne je eine Dividende ausgeschüttet zu haben. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs besetzte Japan im November 1914 die Provinz Schantung und beschlagnahmte sämtliche Anlagen der Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft. In den Nachkriegsjahren gingen sie gegen Entschädigung in chinesischen Besitz über. Insofern war der Strategie des flexiblen und kooperativen Widerstands letzten Endes Erfolg beschieden.

 

Das Fotoalbum des Bergassessors Hugo von Königslöw ist Mittel- und Ausgangspunkt der Sonderausstellung „nach China?“. Sie wird ab dem 19. Juli 2024 im LWL-Museum Henrichshütte in Hattingen zu sehen sein und anschließend nach Siegen, Paderborn und Iserlohn weiterwandern. Die Sonderausstellung wurde im Rahmen des diesjährigen Themenjahres „POWR! Postkoloniales Westfalen“ der LWL-Kulturstiftung in Zusammenarbeit zwischen dem LWL-Museum Henrichshütte, dem Bildwissenschaftler und Fotografen Stephan Sagurna und dem montan.dok erarbeitet. Ein Begleitband wird die historischen Kontexte der Entstehung des Fotoalbums und der Tätigkeiten des Hugo von Königslöw in China aus verschiedenen Perspektiven beleuchten, aber auch aktuelle Bezüge zwischen der damaligen Kolonial- und der heutigen chinesischen Millionenstadt Tsingtau herstellen. 

 

01. Juli 2024 (Dr. Stefan Przigoda)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 55/317 und 41/372.

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Fotothek 020900176000.

 

Brücher, M[ax]: Die Kohlenvorkommen und der Kohlenbergbau Chinas, in: Glückauf. Berg- und Hüttenmännische Zeitschrift 58, 1922, S. 1225-1229, 1253-1259, 1283-1287, 1349-1355. 

 

Die Schantung-Eisenbahn und das von ihr erschlossene Gebiet. Eine Reisebeschreibung, Tsingtau, Berlin 1912.

 

Graichen, Gisela/Gründer, Horst: Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, 4. Aufl., Berlin 2005.

 

Hinz, Hans-Martin/Lind, Christoph (Hrsg.): Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897-1914, Berlin 1998, S. 49-60.

 

Lenger, Friedrich: Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2023.

 

Leutner, Mechthild (Hrsg.)/Mühlhahn, Klaus (Bearb.): „Musterkolonie Kiautschou. Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914. Eine Quellensammlung, Berlin 1997.

 

Sagurna, Stephan: Ein Fenster in die Bergbaugeschichte um 1900. Koloniale Reisefotografie im China-Album des Hugo von Königslöw, in: Rundbrief Fotografie 28, 2021, Nr. 4, S. 17-30.

 

Verhandlungen des Reichstags, Bd. 159, 1897/98, S. 60. Unter: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k9_bsb00002771_00112.html (Eingesehen: 08.03.2024).

 

Online-Portal: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=141271; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=135213; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=295170 (Eingesehen: 27.06.2024).