Studienreisen zu Großbritanniens Bergwerken
Großbritannien war dabei aus deutscher Sicht von jeher ein wichtiges Reise- und Studienziel. Aus den Jahren 1927 und 1929 liegen beispielsweise allein vier ausführlichere Berichte zu Studienreisen in damals wichtige Bergbaugebiete in England, Wales und Schottland vor. In den 1920er-Jahren war der Steinkohlenbergbau jenseits des Kanals für den heimischen Ruhrbergbau der größte Konkurrent auf dem Weltmarkt. Erst der britische Bergarbeiterstreik 1926 brachte vorübergehend eine Verbesserung der Lage auf dem Absatzmarkt. Langfristig war der deutsche Steinkohlenbergbau durch den Aufschwung anderer Energiequellen wie Öl und Braunkohle sowie den durch Rationalisierung sinkenden Steinkohlenverbrauch der Wirtschaft unter Druck. Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen waren dementsprechend im Bergbau geboten. In diese Zeit fallen die genannten Reisen, deren Teilnehmer die beiden Fragen im Gepäck hatten, was man für den heimischen Betrieb lernen könne und wie das Entwicklungspotential der Konkurrenz einzuschätzen sei.
Den Anfang machen die in einem Heft zusammengefassten Berichte über die gemeinsame Reise im Oktober 1927 von Dr.-Ing. Wilhelm Roelen (1889-1958), seinerzeit persönlicher Referent des Unternehmensbereichsleiters bei der Vereinigten Stahlwerke AG (VSt), von Bergassessor Karl Fromme (1873-1960), Bergwerksdirektor der Schachtanlage Hannover-Hannibal, sowie von Ernst Dupierry (1877-1951), Direktor der Schüchtermann & Kremer-Baum Aktiengesellschaft für Aufbereitung. Es folgt der gemeinsame Bericht über die dreiwöchige Reise von Bergassessor a.D. Dr. Wilhelm Funcke (1875-1964), Bergwerksdirektor und stellvertretendes Vorstandsmitglied der Gutehoffnungshütte Oberhausen, sowie von Bergassessor a.D. Dr.-Ing. Hermann Winkhaus (1897-1968), Betriebsdirektor der Gutenhoffnungshütte Oberhausen, im November 1927. Ebenfalls zwei Berichte liegen aus dem Jahr 1929 vor. Zum einen handelt es sich um den gemeinsamen Bericht von Bergassessor a.D. Dr. Hermann Reusch (1896-1971), Betriebsdirektor der Zeche Fürst Leopold I des Eisen- und Stahlwerks Hoesch, und wiederum von Hermann Winkhaus, über ihre von Juni bis Juli dauernde Reise. Zum anderen liegt der Bericht von Dr.-Ing. Walter Vogel (Lebensdaten unbekannt), der später gutachterlich für die Fried. Krupp Bergwerke AG und für den Verein für bergbauliche Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund in Essen (kurz: Bergbau-Verein) tätig war, über seine Reise von Anfang Juli bis Mitte August 1929 vor. Die zukünftige Führungselite, wenn man die Karrieren der meisten der Genannten betrachtet, war hier also unterwegs.
Über genauere Hintergründe, organisatorische Aspekte und weitere Beteiligte geben die Berichte so gut wie keine Auskunft. Allein Roelen schreibt zur gemeinschaftlichen Reise mit Fromme und Dupierry, dass es Empfehlungen von der Raab Karcher GmbH und der Hedwigshütte AG an die größte englische Kohlenhandelsgesellschaft Maris Export and Trading Company gegeben habe. Diese ermöglichte den Besuchern Befahrungen von fünf Bergwerken und Besichtigungen der Birtley Iron Company sowie des Hafens von Cardiff. Der Bericht ist sowohl in der Bibliothek des montan.dok als auch im Archivbestand montan.dok/BBA 55: Gelsenkirchener Bergwerks-AG, Essen, überliefert. Dabei beschränkt sich die letztgenannte Überlieferung auf den Teilbericht von Roelen. Die Verbindung Roelens zur Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) war durch seine Tätigkeit bei der VSt, in die die GBAG den größten Teil ihrer Zechen eingebracht hatte, gegeben.
Allen Berichten ist gemein, dass darin die besichtigten Bergwerke, Unternehmen, Institutionen und Häfen jeweils einzeln beschrieben werden und dann zusammenfassende Beobachtungen bzw. die daraus für den heimischen Bergbau zu ziehenden Schlüsse folgen. Nur der Bericht von Funcke und Winkhaus fasst die Einzelbeobachtungen direkt unter die Punkte Aus- und Vorrichtung, Abbau, Schrämmaschinen, Förderung, Strecken, Förderwagen und Schienen sowie Tagesanlagen und endet mit einer Zusammenfassung. Die genannten Punkte finden sich in gleicher bzw. ähnlicher Form in den anderen Berichten. Man wollte „[…] einen guten Überblick über die heutigen Verhältnisse drüben […]“ (Funcke/Winkhaus, Reisebericht, S. 1) gewinnen und nicht nur Einzelfragen bearbeiten.
Wie die Berichte, die neben den Beschreibungen teilweise sowohl Zeichnungen als auch Pläne und Fotografien beinhalten, rezipiert worden sind, ist nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen. Der Wissenstransfer fand aber im breiteren Kreis statt, wenn die Erkenntnisse etwa in der vom Bergbau-Verein herausgegebenen Zeitschrift „Glückauf“ publiziert wurden – so etwa mit dem Artikel „Betriebseindrücke aus dem englischen Steinkohlebergbau“ von Winkhaus aus dem Jahr 1928 oder dem Beitrag „Die Trockenaufbereitung der Steinkohle“ von Ernst Dupierry aus dem Jahr 1931. Seit Anfang der 1920er-Jahre bemühte man sich dort vermehrt, Berichte von fachlich bekannten Autoren über die im In- und Ausland gewonnenen Erkenntnisse zum Berg- und Hüttenwesen zu publizieren.
Dass diese Erkenntnisse eine wichtige Rolle spielten, lässt sich gut an der Frage des Bergeversatzes veranschaulichen. In Großbritannien war dieses Verfüllen von beim Abbau der Kohle entstandenen Hohlräumen mit geeignetem Gestein insbesondere zur Vermeidung von Bergschäden als aufwendiges und damit teures Verfahren aufgrund der ungleich günstigeren Lagerungsbedingungen kaum gebräuchlich. Funcke und Winkhaus folgerten auf S. 28 nach genauer Erläuterung der Methoden in England im Vergleich zur deutschen Situation: „[…] der Bergeversatz ist der Hemmschuh, der uns bei fortschreitender Modernisierung des englischen Bergbaus im Wettkampf nicht folgen lassen wird“. Fragen der Wirtschaftlichkeit des Bergeversatzes und die Vorteile der englischen Methoden wurden zu dieser Zeit stark diskutiert, wie beispielsweise der Jahresbericht des Bergbau-Vereins von 1927 zeigt.
Neben den genauen Beobachtungen der technischen Fragen wurde in den Beschreibungen auch notiert, wie es um die britische Arbeiterschaft bestellt war. Dabei achteten die deutschen Beobachter vorrangig auf die Leistungsfähigkeit und Fragen der Entlohnung. Ganz der damaligen Arbeitgeberperspektive geschuldet, galt die intensive Beschäftigung von gering entlohnten Jugendlichen im Abbau als unproblematisch, und man sah großes Potential in einer „schärferen Anspannung“ (Fromme, Bericht, S. 16) der Arbeitskräfte, die im Auge der deutschen Betrachter oft unter ihrer Leistungsfähigkeit blieben. Als schwere Belastungen für den Grubenbetrieb sah Vogel zudem das „Weekend“, also dass samstagnachmittags nicht mehr gearbeitet wurde, und die „Holidays“, eine Woche im Juli oder August, in der auf den Bergwerken alles stillstand (Vogel, Reisebericht, I, S. 112).
In ihrem Reisebericht von 1929 beschrieben Reusch und Winkhaus die „soeben fertiggestellte fürstlich eingerichtet[e] Waschkaue“ des Bergwerks Kingshill Colliery in Schottland als „besondere Sehenswürdigkeit“ (vgl. auch im Folgenden S. 72 f.). Dass die Bergleute hier nicht wie in Deutschland zusammen in großen Räumen duschten, sondern es einzeln abgeteilte Duschräume gab, erklärten sich beide wie folgt: „Angeblich hat der Widerstand gegen die Einführung unseres Kauensystems seinen Grund in einem unter den Bergarbeitern weit verbreiteten Aberglauben, daß das Buckeln [das gegenseitige Säubern des Rückens durch die Bergleute unter der Dusche, M.S.] durch einen anderen Mann die Manneskraft schwäche (!).“ Weiter mokierten sie sich über den großen Luxus der an die Luftheizung angeschlossenen Kleiderschränke, die durchweg gekachelten Wände, einen eigenen Raum zur Trocknung nasser Kleidung, einen Verbandsraum, der einem modernen Operationssaal gleiche, und schließlich die angeschlossene Kantine mit einer Küche gleich der eines guten Hotels: „Ob die Einrichtung auf die Dauer in sauberem Zustand gehalten, und vor allem von Ungeziefer frei bleiben wird, dürfte bei der gewählten Einrichtung sehr zweifelhaft sein“.
1929 war die Einrichtung von Waschmöglichkeiten auf den Bergwerken in Großbritannien insgesamt aber noch wenig fortgeschritten, was in den meisten der genannten Reiseberichte eigens erwähnt wird. Im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich und Belgien, wo seit den 1880er-Jahren Waschkauen mit Brausemöglichkeiten sukzessive in Gebrauch kamen, wurden erst mit dem Miner Welfare’s Fund 1921 und der seit 1926 eigens für die Errichtung von „pithead bath“ eingeführten Abgabe auch auf den Bergwerken in Großbritannien Waschkauen in größerer Anzahl errichtet. Übrigens betonten Reusch und Winkhaus, dass auf Kingshill die Waschkaue ohne Unterstützung des Miner Welfare’s Fund gebaut wurde. Die einzeln abgeteilten Duschbereiche waren dabei tatsächlich eine Vorgabe, die zur Gewährleistung der Privatsphäre beim Bau solcher Einrichtungen in Großbritannien beachtet werden sollte. Zudem findet sich Vieles, das die deutschen Betrachter als luxuriös empfanden, bei weiteren neu gebauten Waschkauen wieder, die im Übrigen auch architektonisch Maßstäbe setzten. Für Kingshill existiert aus den 1930er-Jahren eine Filmaufnahme, die einen kurzen Blick in die Waschkaue und den Erste-Hilfe-Raum erlaubt, der nun auch noch eine Besonnungseinrichtung beinhaltete.
Die Anekdote um die Waschkaue von Kingshill lässt neben dem Eindruck, den man über die Mentalität der Berichtenden gewinnt, noch einmal den Blick auf den generellen Quellenwert der Reiseberichte deutlich werden. Durch detaillierte Beschreibungen und beigegebene Zeichnungen, Fotografien und Pläne bewahren sie wichtige Informationen zur Geschichte der Bergwerke in Großbritannien, und wohl auch das eine oder andere Detail, das sonst nicht mehr überliefert ist.
01. Juli 2024 (Dr. Maria Schäpers)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 16/780, 20/289, 30/496, 55/2503, 55/2508, 295/74, 295/75.
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bibliothek 16726/1, 16726/2, 17035/11, 17035/12, 17045.
Asrih, Lena/Ingenerf, Nikolai/Meyer, Torsten: Bergbau als techno-naturales System – Ein Beitrag zur modernen Bergbaugeschichte, in: DER ANSCHNITT. Zeitschrift für Montangeschichte 71, 2019, Heft 1, S. 2-18.
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