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„Seinem hochverdienten Geschäftsführer Doctor Natorp zur Erinnerung an 25jährige Thätigkeit“

In eigentlich jedem Archiv oder jeder musealen Sammlung gibt es besondere Stücke, die immer wieder oder besonders gerne zur Hand genommen und vorgezeigt werden. Weil sie historisch oder monetär besonders wertvoll sind, weil sich mit ihnen eine besondere Geschichte verbindet, weil sie repräsentativ für die Bestände bzw. Sammlungen sind oder weil sie aufgrund ihrer materiellen Qualität und ihrer auratischen Kraft in ganz besonderer Weise Einblicke in längst vergangene Zeiten vermitteln können.

Solch ein mehrfach bemerkenswertes Stück ist im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) ein Fotoalbum aus dem Bergbau-Archiv Bochum. Der Widmungstext verrät, dass der Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund dies „[s]einem hochverdienten Geschäftsführer Doctor Natorp zur Erinnerung an 25jährige Thätigkeit“ zu dessen Dienstjubiläum im Jahr 1889 zugedacht hat (montan.dok/BBA 16/157).  

 

 

Der Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund mit Sitz in Essen – gemeinhin kurz Bergbau-Verein genannt – war in der zweiten Hälfte des 19. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein einer der mächtigsten industriellen Interessenverbände in Deutschland. Gegründet wurde er im Kontext der Liberalisierung des preußischen Bergbaus mit der Bergrechtsreform 1851-1865 und der Weltwirtschaftskrise 1857-1859. Vertreter von 89 Bergbaugesellschaften und Bergwerken des Ruhrbergbaus beteiligten sich am 17. Dezember 1858 an der konstituierenden Versammlung in Essen. Zunächst sollte er die Brancheninteressen vor allem gegenüber dem Staat wahren, etwa in der Verkehrs- oder der Wirtschaftspolitik. Im Laufe der Zeit gewann er aber auch als Kartell und als Gegenmacht gegen eine Bergarbeiterschaft Bedeutung, deren wachsende Unzufriedenheit mit den neuen Arbeitsverhältnissen im ersten Massenstreik des deutschen Bergbaus im Mai 1889 und der Gründung dauerhafter Bergarbeitergewerkschaften mündete. Der Bergbau-Verein gilt nicht nur als Prototyp und Vorreiter eines industriellen Interessenverbandes, er nahm auch in dem seit der Reichsgründung 1871 rasch wachsenden und vielfach ineinander verwobenen Netz bergbaulicher und industrieller Verbände eine zentrale Stellung ein.

 

Gustav Natorp hat als Geschäftsführer des Bergbau-Vereins diese Entwicklungen maßgeblich mitgestaltet. Er wurde am 22. April 1824 in Wengern als Sohn des Pfarrers und Schulinspektors Gustav Ludwig Natorp und seiner Frau Marie, geb. Krummacher, geboren. Dabei war ihm eine Verwandtschaftsbeziehung zum Bergbau gleichsam in die Wiege gelegt worden, entstammte seine Großmutter Christiane doch der bekannten Gewerken- und Bergbeamtenfamilie Heintzmann. Seit 1850 war er als Gymnasiallehrer tätig, bevor er im September 1864 die Geschäftsführung des noch jungen Bergbau-Vereins übernahm, die er bis zu seinem Tod am 12. Januar 1891 innehaben sollte. Was qualifizierte Natorp für seine neue Tätigkeit, wenn man einmal von seiner Freundschaft zu Friedrich Hammacher, dem damaligen Vorsitzenden des Bergbau-Vereins, absieht? Er war weder Jurist, wie seine beiden Vorgänger, noch dürfte er besondere bergbauliche oder unternehmerische Qualifikationen aufzuweisen gehabt haben. Allerdings wurden ihm Verhandlungsgeschick und taktische Begabung nachgesagt. Dies waren in der Frühphase der aufstrebenden privaten Bergbauindustrie und angesichts noch wenig ausgeprägter Berufs- und Qualifikationsprofile wohl die ausschlaggebenden Eigenschaften.

 

Wohl weniger aufgrund seiner verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen, sondern vorrangig durch seine interessenpolitischen Erfolge gewann Natorp hohes Ansehen und wurde „nicht etwa als bloßer Geschäftsführer, sondern als eine sachkundige, geachtete Persönlichkeit voll Initiative und Dynamik“ (Mews, S. 36) in der frühen ruhrindustriellen Oberschicht geschätzt.

 

Von dieser Wertschätzung zeugt auch das Fotoalbum des Bergbau-Vereins. Es misst 32 x 27,5 x 10,5 cm. Der aufwändig gearbeitete Ledereinband zeigt eine eingeprägte, von einem umlaufenden Blütenrankenmuster umfasste Darstellung eines Bergmanns, der in seinen Händen eine Froschlampe und einen Schlägel trägt. Darunter findet sich eine wappenartige Darstellung mit den Initialen „Dr. G. N.“ sowie das Symbol Schlägel und Eisen. Der Einband wird an den Ecken durch vier Beschläge, vermutlich aus Silber, geschützt. An der Öffnungsseite des Buchblocks findet sich eine Schließe, vermutlich aus dem gleichen Edelmetall. Der hochwertige Gesamteindruck wird im Innern des Albums durch ein Schmuckblatt verstärkt. Mit der Anfertigung hatte der Bergbau-Verein den jungen Düsseldorfer Maler Gottfried Eckhardt (1865-1933) beauftragt. Unter dem umkränzten Symbol von Schlägel und Eisen sowie dem eingangs zitierten Widmungstext zeigt es eine Frau, einen Lorbeer- bzw. Siegeskranz haltend, und einen Knaben mit Hammer und Froschlampe. Unter der Abbildung eines damals modernen Bergwerks finden sich zwei Füllhörner mit bergbaulichen Arbeitsgeräten, die symbolisch auf reiche Ausbeute des Bergbaus und den daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Nutzen und Wohlstand verweisen.

 

Insgesamt umfasst das Album 27 Blatt mit 82 Porträtfotografien führender Bergbauindustrieller in speziellen Einsteck-Passepartouts. Bei den Fotografien handelt es sich fast durchweg um Cartes de Visites, hier in den Formaten Visit (ca. 10,5 x 6,5 cm) und Cabinet (ca. 16,6 x 10,8 cm), die seit etwa 1860 bis zum Ersten Weltkrieg in der bürgerlichen Gesellschaft des Kaiserreichs überaus populär und verbreitet waren. Die Carte de Visite diente ähnlich wie moderne Visitenkarten der eigenen Vorstellung und der Erinnerung an ein Zusammentreffen. Darüber hinaus waren die Porträts von Monarchen oder anderen prominenten Zeitgenossen beliebte Sammelobjekte.

 

Die 82 Fotografien in dem Album porträtieren die Wegbegleiter Natorps in den Führungsgremien des Bergbau-Vereins und damit einen großen Teil der industriellen, wirtschaftsbürgerlichen Führungselite des Ruhrbergbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon dies macht das Album heute zu einer wichtigen Quelle für die Geschichte des Ruhrbergbaus. Zusammen mit einer Reihe ähnlicher im montan.dok überlieferter Jubiläums- und Erinnerungsalben aus dieser Zeit ist es zugleich ein Beleg für deren damalige Popularität u. a. als Geschenke zu besonderen Anlässen und damit für den hohen gesellschaftlichen Stellenwert der Fotografie als Medium visueller Kommunikation insgesamt.

 

Das Album ist heute Teil der schriftlichen und fotografischen Überlieferungen des Bergbau-Vereins und seiner Nachfolger im Bestand montan.dok/BBA 16: Verein für die bergbaulichen Interessen (Bergbau-Verein), Essen, des Bergbau-Archivs Bochum. Dabei lässt sich seine Überlieferungsgeschichte nicht mehr sicher im Detail nachvollziehen. Vermutlich ist es nach dem Tod Natorps 1891 beim Bergbau-Verein verblieben. Einige Fotos sind im Laufe der Zeit offenkundig entnommen worden, wie manch ungefüllter Einsteckrahmen zeigt. Zusammen mit anderen Teilen der Verbandsregistratur hat es den Zweiten Weltkrieg mehr oder minder schadlos überstanden und ist dann mit der Übernahme der Unterlagen Anfang 1976 in das montan.dok/Bergbau-Archiv Bochum gelangt. Das Album wurde im Projekt DigiPortA im Jahr 2014 umfänglich digitalisiert. Die Aufnahmen sind online über die Datenbank des montan.dok unter www.montandok.de und über die Projektseite www.digiporta.net recherchierbar.

 

Solche Alben machen einen vergleichsweise kleinen Teil der insgesamt weitaus umfassenderen und reichhaltigeren Fotoüberlieferungen im Bergbau-Archiv Bochum und in der Fotothek des montan.dok aus. Sie sind erstrangige Quellen für historische Forschungen zum 19. sowie vor allem zum 20. Jahrhundert, das gerne als „Jahrhundert der Bilder“ bezeichnet wird.

 

01. August 2021 (Dr. Stefan Przigoda)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 16/157

 

Farrenkopf, Michael/Przigoda, Stefan: Visuelle Präsentationsformen bergbaulicher Eliten zwischen privater Erinnerung und öffentlicher Darstellung, in: Füßl, Wilhelm (Hrsg.): Von Ingenieuren, Bergleuten und Künstlern. Das Digitale Porträtarchiv „DigiPortA“, München 2020 (= Deutsches Museum Studies, Bd. 6), S. 71-85. Auch online unter https://www.deutsches-museum.de/assets/user_upload/studies-6.pdf (Eingesehen: 26.07.2021).

 

Farrenkopf, Michael/Przigoda, Stefan: Quellenbestände zur Visual History im Ruhrgebiet, in: forum GESCHICHTSKULTUR RUHR, Heft 2, 2020, S. 33-34.

Mews, Karl: Gustav Natorp, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 8, Münster 1962, S. 32-55.

 

Przigoda, Stefan: Unternehmensverbände im Ruhrbergbau. Zur Geschichte von Bergbau-Verein und Zechenverband 1858-1933, Bochum 2002 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 102; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 11; = Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen: Schriftenreihe A, Darstellungen, Bd. 21).