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1956: Katastrophe in Marcinelle

Orden, Abzeichen und Auszeichnungen sind seit Ewigkeiten ein beliebtes gesellschaftliches Mittel, um persönliche Verdienste in einer bestimmten Angelegenheit zu würdigen. Das Bundesverdienstkreuz dürfte hierzulande einen großen Bekanntheitsgrad haben. Wer sich dezidiert für den Bergbau interessiert, kennt vielleicht sogar auch das durch den Bundespräsidenten verliehene Grubenwehr-Ehrenzeichen. In der Dauerausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum stößt man im Rundgang Steinkohle auf eine Auszeichnung, die sicher für den ein oder anderen fragenden Blick sorgt. Was für ein Orden ist das, und was hat er mit dem Bergbau zu tun? Für die Antworten müssen wir 67 Jahre zurückblicken.

Wie jeden Tag ging der italienische Arbeiter Antonio Janetta auf der Zeche Bois du Cazier im belgischen Marcinelle, heute ein Bezirk von Charleroi, seiner Arbeit nach. Seine Aufgabe bestand darin, auf 975 Metern Tiefe die vollen Kohlenwagen auf den Förderkorb zu schieben und den Fördermaschinisten zu informieren, wenn der Korb nach über Tage gezogen werden konnte. Doch an diesem Tag, dem 8. August 1956, passierte bei dieser Tätigkeit ein Fehler mit katastrophalen Folgen. Über den genauen Hergang kursieren in den Akten verschiedene Versionen und Vermutungen. Was gesichert scheint, ist, dass durch einen Kommunikationsfehler ein Missverständnis zwischen Janetta unter Tage und dem Maschinisten über Tage entstanden war und der Korb in einem Moment nach oben gezogen wurde, als sich ein Kohlenwagen noch nicht vollständig im Korb befand. Dieser Wagen schlug an die Schachtwand und zerstörte sowohl die Starkstrom- als auch die Druckluftleitungen. Die beschädigte Stromleitung setzte Teile der Grube in Brand, der Sauerstoff aus der Druckluftleitung fachte das Feuer weiter an. Janetta und wenige andere konnten sich über den Ausziehschacht retten und Alarm schlagen, der größere Teil der Bergleute blieb in der brennenden verrauchten Grube gefangen.

 

Über Tage gestaltete sich die Situation unübersichtlich. Mehrere Versuche, an den Unglücksort vorzudringen, mussten der großen Hitze und des Rauches wegen abgebrochen werden. Lehnte man Hilfsangebote aus dem Ausland ursprünglich noch ab, stellte sich die Situation zwei Tage nach Ausbruch des Brandes noch immer als so schwierig dar, dass ein Umdenken einsetzte und doch noch ein Hilfsgesuch bei der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen in Essen einging. Noch am selben Tag traf eine Mannschaft mit dem so genannten Fliegenden Labor aus Deutschland in Marcinelle ein und begann am gleichen Abend mit der Arbeit.

 

Eines der Mitglieder der Grubenwehr war Georg Langer aus Essen. Seine Arbeit am Unglücksort ist glücklicherweise sehr gut dokumentiert. So ist Aufzeichnungen der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen zu entnehmen, dass Langer mit anderen Rettern zwischen dem 10. und dem 25. August vierundzwanzigmal die Grube befahren und im Kampf gegen das Feuer verschiedene Messungen durchgeführt, Wettersperren gebaut, Wetterführungen geändert und Reparaturen durchgeführt hat (vgl. montan.dok/BBA 17/17).

 

Die Presse vor Ort war sehr an Georg Langers Einsätzen interessiert und dementsprechend war der Deutsche in den tagesaktuellen Veröffentlichungen immer wieder präsent. Einem der Berichte ist zu entnehmen, dass er sich nach einem Einsatz mehr oder weniger unmittelbar zurück über Tage den Fragen der Journalisten stellte. Die Gespräche fanden in einem nicht genutzten Nebengebäude des Bergwerks in einer improvisierten Pressekonferenz statt. Dabei war natürlich auch der aktuelle Stand der Rettungsaktion Teil der Befragungen. Hier kam der Plan zur Sprache, in naher Zukunft mit der Rettungsaktion bis auf 975 Meter Tiefe vorzudringen, falls die örtlichen Gegebenheiten dies zuließen. In einer weiteren kleinen Meldung elf Tage später ist zu lesen, dies sei einer internationalen Spezialtruppe um Langer, zudem bestehend aus dem Italiener Galvan und dem Belgier Pelgrims – deren Vornamen nicht überliefert sind – inzwischen gelungen. Sie hätten es sogar geschafft, bis in den 1035 Meter tiefen Leopoldstollen vorzustoßen (vgl. montan.dok/BBA U 131), was in den zwei Wochen zuvor nicht gelungen war. 

 

Langers Einsätze auf Bois du Cazier waren insofern von Erfolg gekrönt, als sie beim Bekämpfen des Feuers und nicht zuletzt beim Bergen der Toten halfen. Für eine Rettung der eingeschlossenen Bergleute war es in den meisten Fällen wegen der schnellen Ausbreitung des Feuers und vor allem des Rauches einfach zu spät. So ist die Bilanz des Unglücks trotz des Einsatzes der Rettungskräfte verheerend: Nur 13 Bergleute konnten gerettet werden, 262 verloren ihr Leben, die Mehrheit von ihnen waren italienische Staatsbürger. Der italienische Staat zog seine Konsequenzen: Man wollte keine Arbeiter mehr in die als unsicher empfundenen belgischen Zechen schicken und ab 2001 wurde der 8. August zum staatlichen Gedenktag „Giornata nazionale del Sacrificio del lavoro italiano nel mondo“ (Tag der Erinnerung an die Opfer italienischer Arbeiter im Ausland) ernannt.

 

Einer, der Georg Langers unermüdlichen Einsatz vor Ort sicher wahrgenommen hat, war der belgische König Baudouin. Den Presseberichten zufolge war der König, teilweise zusammen mit seinem Vater Leopold III., mehrfach in Marcinelle anwesend, um sich über den Stand der Rettungsaktion zu informieren und Anteil zu nehmen. Immer wieder soll er bei seiner Anwesenheit auch direkt mit den Grubenwehrmännern vor Ort gesprochen haben. Ob es hierbei zu einem Austausch zwischen dem König und Georg Langer gekommen ist, ist nicht überliefert.

 

Einmal getroffen haben sich die beiden aber auf jeden Fall: Am 10. November 1956, als Georg Langer durch König Baudouin für seine Verdienste rund um das Grubenunglück von Marcinelle ausgezeichnet wurde. Der König verlieh ihm bei diesem Anlass mit dem Leopoldsorden im Range eines Ritters (montan.dok 037000514001) einen ebenso prestigeträchtigen wie schmuckvollen Orden, mit einer silbernen Krone, Johanniterkreuz und dem Brabanter Löwen verziert, umrahmt von Eichen- und Lorbeerblättern, befestigt an einem edlen violetten Band.

 

Der Leopoldsorden Georg Langers sowie seine zahlreichen anderen Auszeichnungen und Andenken – darunter ein Fotoalbum Langers mit Fotos des Einsatzes in Marcinelle – werden in den Musealen Sammlungen und im Bergbau-Archiv Bochum des Montanhistorischen Dokumentationszentrums bewahrt.

 

01. August 2023 (Philip Behrendt, B.A.)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum 037000514001

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 17/17, 170/76, 176/25, 176/26, U 131, U 209, U 311

 

Farrenkopf, Michael: „Zugepackt – heißt hier das Bergmannswort“. Die Geschichte der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen im Ruhrbergbau, unter Mitarbeit von Susanne Rothmund, Bochum 2010 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 178; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 22), S. 396, S. 425-434.

 

Giornata nazionale del sacrificio del lavoro italiano nel Mondo: direttiva del Presidente del Consiglio 1 dicembre 2001 https://www1.interno.gov.it/mininterno/export/sites/default/it/sezioni/sala_stampa/notizie/altro/app_notizia_22785.html (Eingesehen 30.06.2023).

 

Müller, Wilbrun: 50 Jahre Hauptstelle für das Grubenrettungswesen Essen-Kray, in: Dräger-Hefte, Nr. 241, Jan./März 1961, S. 5311-5314.

 

Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=279763 und museum-digital. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1072296 (Eingesehen: 25.07.2023).