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Lilien zwischen Koks und Kohle – Kokereidirektor mit ungewöhnlichem Hobby

Das Montanhistorische Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum bewahrt unzählige Fotografien zur Geschichte (nicht nur) des deutschen Bergbaus. Darunter befinden sich auch Überlieferungen aus dem Kreis der Wirtschafts- und technischen Funktionseliten. Gerade sie geben zuweilen besondere Einblicke in das Privat- und das Arbeitsleben dieser sozialen Gruppen.

Ein Beispiel ist der fotografische Nachlass von Theodor Haber, Direktor der Kokerei Emscher-Lippe in Datteln. Neben „seiner“ Kokerei widmete er seine Freizeit der Pflanzenkunde und -fotografie. Besonders die aufwendige und kostspielige Stereofotografie hatte es ihm wohl angetan, wobei die Lilie offenbar sein liebstes Motiv war. 

 

Theodor Haber wurde am 05. Februar 1895 in Straßburg geboren. Er war der Sohn von Wilhelmine Haber und Telegrafen-Inspektor Theodor Haber. Als Diplom-Ingenieur begann er 1921 bei der Gewerkschaft Emscher-Lippe in Datteln als Betriebs-Chemiker und übernahm bereits 1925 die Leitung der Kokerei- und Kohlenwertstoffbetriebe der Schachtanlage 1/2. 1931 erweiterte sich seine Leitung auf die Kokerei- und Kohlenwertstoffbetriebe der Schachtanlage 3/4, bevor er 1961 in den Ruhestand ging. Mit seiner Frau Hilda Haber und seinen drei Kindern – der jüngsten Tochter Adelheid, dem Sohn Joachim und dem ältesten Sohn Wolfgang – lebte er in Datteln. Sein Studium sowie seine Arbeit auf der Kokerei Emscher-Lippe musste er aufgrund der Weltkriege unterbrechen. Bei seinem Kriegsdienst 1939 verletzte er sich am Knie, woraufhin die Gewerkschaft Emscher-Lippe einen Unabkömmlichkeitsantrag stellte, dem stattgegeben wurde. Wie viele andere Ingenieure war auch Theodor Haber laut Entnazifizierungsakten ab 1937 Mitglied der NSDAP, konnte aber nach seiner Entnazifizierung wieder in seine Tätigkeit bei der Gewerkschaft Emscher-Lippe zurückkehren (Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, NW 1035 / SBE Sonderausschuss Bergbau NW 1035, Nr. 14644). 1977 bekam er das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland am Bande verliehen, und 1980 feierte er seinen 85. Geburtstag. Weiteres über die Familie Haber oder über ihr Privatleben ist nicht bekannt. 

 

Der fotografische Nachlass bietet Einblicke in verschiedene Lebensbereiche des Kokereidirektors, von seiner Arbeit auf der Kokerei Emscher-Lippe in Datteln, über sein Familienleben, Urlaubsreisen und besondere Ereignisse bis hin zu seinen Hobbys, insbesondere die Pflanzenkunde. 

 

Ein großer Teil des fotografischen Nachlasses hat einen Bezug zum Steinkohlenbergwerk und der Kokerei der Gewerkschaft Emscher-Lippe in Datteln. Der erste Spatenstich für die Schachtanlagen der Zeche Emscher-Lippe wurde nach der Eröffnung des Dortmund-Ems-Kanals im Jahr 1902 gesetzt, und 1908 wurden bereits die ersten Koksofenbatterien in Betrieb genommen. Die Zeche prägte über Jahrzehnte hinweg die Entwicklung und das Bild der Stadt Datteln. Theodor Haber war gut 40 Jahre für die Gewerkschaft Emscher-Lippe tätig, in der er die wechselvolle Geschichte des Bergwerks in Fotoalben, teils fotografisch und teils schriftlich (montan.dok 120400010900 und 120400011100) festhielt. Ob diese Erinnerungen für ihn persönlich, für die Familie und Freunde oder Außenstehende angefertigt wurden, kann nicht genau gesagt werden. Die schriftlichen Begleittexte über die chronologische technische Entwicklung der Kokerei lassen allerdings vermuten, dass es sich hierbei um eine Publikation für betriebsnahe Personen und interessierte Außenstehende handeln könnte. Die Menge an Fotos der von Haber geführten Kokerei sowie die Fotoalben mit Aufnahmen der Zeche und Kokerei sind typisch für eine Person mit Führungsposition im Bergbau.

 

In dem Nachlass befinden sich neben den Fotos aus Theodor Habers Arbeitsleben zahlreiche Aufnahmen aus seinem Privatleben: Portraits von Familie und Freunden, Aufnahmen aus der Wohngegend der Habers in Datteln, Urlaubsbilder, Postkarten und Fotos von Ausflügen. Dabei handelt es sich zumeist um gewöhnliche monochrome Glasnegative und Dias.

 

Theodor Haber war erst Vorstandsmitglied und technischer Berater im Präsidium, später Vorsitzender und Vizepräsident des Obst- und Gemüseverbandes Westfalen und Lippe, Ehrenmitglied der Orchideen-Gesellschaft, aktives Mitglied der Iris- und Lilien-Gesellschaft sowie Mitglied der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft und des Vereins Naturschutzpark. In seiner Fotosammlung finden sich Aufnahmen von Pflanzenlexika über Orchideen, Plakate mit der Forderung nach Naturschutz beziehungsweise der Beendigung von Raubbau und Bilder seines Gewächshauses für Tropenpflanzen im eigenen Garten, das sichtbarer Ausdruck seiner Leidenschaft für Botanik ist. Zimmerpflanzen aus tropischen und subtropischen Regionen wie Orchideen oder Grünlilien erfreuten sich im Bürgertum schon im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit, die allerdings während der Weltkriege abebbte, da sie sehr kostspielig waren und zunehmend weniger dem Zeitgeist entsprachen. In dieser Zeit rückten heimische Pflanzen in den Vordergrund, und der Garten wurde aus Versorgungsgründen vorrangig als Anbaufläche genutzt. 

 

Auf Theodor Haber scheint dies allerdings nicht zuzutreffen. Viele seiner Pflanzenfotos lassen sich nicht exakt datieren. Einige Aufnahmen stammen aus den 1920er- und 1930er-Jahren, und in den späten 1930er-Jahren besuchte er Gartenbau-Ausstellungen und -Betriebe in Belgien. Auch haben sich Fotos von seinem 40-jährigen Jubiläum und Ausscheiden aus dem Dienst der Emscher-Lippe AG erhalten. 1961 werden ihm Orchideen überreicht (montan.dok 120400011200), in Urlauben in den Niederlanden und auf Madeira fotografierte er Parkanlagen und Gewächshäuser, und in seinem Nachlass finden sich zugekaufte Stereofotografien von Blumenbeeten, Wasserfällen, Parkanlagen, Pflanzen und Wäldern vermutlich aus den 1950er-Jahren (montan.dok 120400022900 und 120400023000). Daher spricht vieles im fotografischen Nachlass für ein lebenslanges Interesse an der Botanik.

 

Das Besondere in diesem Zusammenhang ist die Fotografie von Lilien, Orchideen und Blumengärten (montan.dok 120400024100), denn vermutlich wurde ein Großteil der Blumenfotos von Theodor Haber selbst aufgenommen und entwickelt. Üblich war das nicht, auch nicht, dass es sich bei den meisten Aufnahmen um Stereofotografien in Farbe handelt. Erstaunlich ist zudem, dass die aufwendigsten und teuersten Fotografien in Habers Sammlung vorrangig seinem Hobby gewidmet sind und nicht seiner Familie.

 

Die Hauptphase der Stereofotografie erstreckte sich von 1850 bis in die 1930er-Jahre. Stereofotos sind zwei nebeneinander angeordnete, fast identische Fotografien auf Glas, die in einem leicht unterschiedlichen Blickwinkel dasselbe Motiv zeigen. Denn „[das] Raumsehen kommt dadurch zustande, [dass] jedes Auge von einem Gegenstand ein etwas anderes Bild sieht“ (Offermann/Schreiber, Von Bergwerken und Kristallschätzen, S. 26, Z. 1-2). Durch die Anpassung der Blickwinkel auf die Abstände der menschlichen Pupillen bei den Stereofotos und mittels Betrachtung durch ein Stereoskop wird ein dreidimensionales Bild erzeugt. Stereofotografien waren durchaus ein Massenmedium, auch wenn sie durch die Konkurrenz der Fotografie und später durch den Film zunehmend verdrängt wurden und in Vergessenheit gerieten. Ihre zeitweilige Beliebtheit verdankten sie der Faszination am dreidimensionalen Bild. Es ging weniger um eine kunstvolle Inszenierung von Motiven, sondern mehr um das Einfangen von Erlebnissen, die man sich durch die Tiefe der Bilder vergegenwärtigen konnte (vgl. Pietsch, Stereofotografie, S. 27). 

 

Diese Eigenschaft machte sich auch die Montanindustrie zunutze, indem sie Stereofotos von Über- und Untertage-Anlagen der Bergwerke anfertigen ließ. Die Dreidimensionalität der Fotos wurde genutzt, um den Betrachtenden realistisch anmutende Einblicke in die Bergwerke zu bieten. Die visuelle Kraft und ihre immersive Wirkung auf den Betrachter konnten zum Beispiel in der Öffentlichkeitsarbeit auf Ausstellungen zu Demonstrationszwecken der Leistungsfähigkeit und des technologischen Fortschritts der Branche genutzt werden. Das zeigt auch die umfangreiche Sammlung an Stereofotografien im montan.dok. Große Teile der Sammlung konnten im Projekt „Digitalisierung historischer Stereofotografien als Quellen musealer Sammlungs- und Vermittlungsstrategien“, das durch die Deutsche Digitale Bibliothek im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderten Programms NEUSTART KULTUR ermöglicht worden ist, erschlossen, digitalisiert und online zugänglich gemacht werden. Und noch heute kann eine Auswahl aus der Sammlung im Deutschen Bergbau-Museum Bochum durch Stereopanoramen in ihrer Tiefenwirkung betrachtet werden. Das Hobby Theodor Habers war demzufolge kompliziert, kostspielig und durch die Aufnahmen in Farbe außergewöhnlich und selten für einen Amateurfotografen seiner Zeit.

 

Der fotografische Nachlass Theodor Habers sticht durch seine Vielfalt hervor. Die typischen monochromen Aufnahmen der Zeche und Kokerei wirken konträr zu den bunten dreidimensionalen Lilien und Orchideen, mit denen sich Theodor Haber vermutlich eine Art persönlichen Rückzugsort vom Arbeitsalltag schuf. Leider kann aufgrund der Beschränkung des Nachlasses vorrangig auf Fotografien und mangelnder Hinweise zur Entstehung und Verwendung der Fotos keine genaue Aussage darüber getroffen werden, warum und wie Theodor Haber die Stereofotos nutzte. Auffällig bleibt aber das fortlaufende Auftauchen von Pflanzenfotos zu verschiedenen Zeiten in Theodor Habers Leben, woraus sich eine Leidenschaft für die Pflanzenkunde herauszeichnet, speziell für die Lilien. Folglich ergänzt der Nachlass die Sammlung des montan.dok um einen ausgefallenen privaten Aspekt eines Angehörigen der technischen Funktionselite und könnte Anstoß für neue Forschungen geben.

 

01.06.2025 (Désirée Sophie Baumann, B.A.)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Fotothek (FOT) 40: Fotografischer Nachlass Theodor Haber, Datteln – Dr.-Ing., Kokereidirektor.

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum 120400010900, 120400011100.

 

Entnazifizierung Theodor Haber, geb. 05.02.1895 (Ingenieur), Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, NW 1035 / SBE Sonderausschuss Bergbau NW 1035, Nr. 14644, online unter: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/A54MNJM2HDTN5BV675P7G7DDVRPGEV34 (Eingesehen: 10.01.2025).

 

Emscher-Lippe Bergbau AG: Fünf Jahre Emscher-Lippe Bergbau A.G. 1954-1958, Datteln i. W. 1958.

 

Gewerkschaft Emscher-Lippe: So ist`s bei uns auf Emscher-Lippe, Datteln 1953.

 

Grotz, Kathrin/Rahemipour, Patricia: „Geliebt, gegossen, vergessen – Phänomen Zimmerpflanze“. Katalog- und Essayband zur Ausstellung Botanisches Museum Berlin, 7. Dezember 2018 bis 2. Juni 2019, Botanischer Garten Berlin 2019.

 

Leonhardt, Nic: Durch Blicke im Bild. Stereoskopie im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2016.

 

Meier, Norbert: Zeche Emscher-Lippe. Steinkohlenbergbau unter dem Kanalkreuz Datteln, Recklinghausen 2013.

 

Offermann, Erich/Schreiber, Wolfgang: Von Bergwerken und Kristallschätzen. Fotografiert in 3-D-Technik, Haltern 1989.

 

Pietsch, Werner: Stereofotografie. Die theoretischen Grundlagen der Stereoskopie. Einführung in die Fototechnik und praktische Ratschläge für die Aufnahme, Halle (Saale) 1959.

 

Senf, Erhard: Entwicklungsphasen der Stereofotografie, in: Kemner, Gerhard (Hrsg.): Stereoskopie. Technik, Wissenschaft, Kunst und Hobby, Berlin 1989, S. 18-32.

 

Windolf, Paul/Marx, Christian: Braune Wirtschaftselite. Unternehmer und Manager in der NSDAP, Frankfurt/New York 2022.