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Der Bergmannsfreund. Ein Ratgeber zur Bekämpfung der Unfallgefahren im Steinkohlenbergbau

An den „Bergmannsfreund“ werden sich all jene erinnern, die im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Ausbildung zum Bergmann durchlaufen haben. Vor allem bei der Unterrichtung in den Bergschulen wurde in Fragen der bergbaulichen Sicherheit auf diese, bereits 1927 zusammengestellte Sammlung von „Unfallgefahren“ zurückgegriffen.

Das Buch scheint im Laufe der Zeit zudem eine recht große Verbreitung gefunden zu haben, wie die Mitarbeitenden des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum (DBM) anlässlich verschiedener Übernahmen von Akten und Literatur in der jüngeren Vergangenheit immer wieder feststellen konnten. Und noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich der damalige Essener Verlag Glückauf für die Herausgabe einer formal sehr ansprechend gestalteten Reprint-Ausgabe entschieden, die im Herbst 2003 mit finanzieller Unterstützung der Bergbau-Berufsgenossenschaft gedruckt worden ist.

 

Die ursprünglichen Motive, in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre den „Bergmannsfreund“ zu erarbeiten und zu publizieren, erläuterte Fritz Heise in seinem Vorwort zur ersten Auflage, das auch in die Reprint-Fassung aufgenommen worden ist. So unterhielt die Westfälische Berggewerkschaftskasse (WBK) – Professor Heise war ihr damaliger Geschäftsführer – das Bergschulwesen im Oberbergamtsbezirk Dortmund und maß im Rahmen der bergmännischen Ausbildung den „Unfallgefahren und ihrer Bekämpfung“ eine „außerordentliche Wichtigkeit“ bei (S. 3). Deshalb waren die seinerzeitigen Bergschuldirektoren Karl Haarmann (Witten), Joseph Hilberg (Lünen), Wilhelm Nattkemper (Bochum), Wilhelm Ortmeier (Gerthe) sowie Fritz Senft (Hamborn) von der WBK beauftragt worden, die Sammlung und Bearbeitung der zahlreichen Unfallgefahren des Bergbaus zugunsten eines Lehrbuchs zu leisten.

 

Dies geschah im Ergebnis in sechs Teilen, für die jeweils einer der Bergschuldirektoren verantwortlich zeichnete und die sich den Unfallgefahren (1.) in Hauptschächten, Blindschächten und Bremsbergen, (2.) bei der Förderung und Fahrung in söhligen Strecken, (3.) durch Stein- und Kohlenfall, (4.) durch Erstickung, Vergiftung und Explosionen sowie (5.) im Übertagebetrieb en détail widmeten. Besonders anschaulich und praxisnah geriet der „Bergmannsfreund“ vor allem, weil die Autoren zur Erläuterung der theoretischen Sachverhalte in großem Umfang auf die Niederschriften der Unfallverhandlungen der Bochumer Sektion der damaligen Knappschafts-Berufsgenossenschaft zurückgreifen durften. Insofern wurden unzählige Unfall-„Beispiele“ in das Lehrbuch eingearbeitet, die den Schauer der Authentizität bargen. Nicht selten wurde dieses, aus Gründen der Sensibilisierung für die Unfallgefahren wohl kalkulierte Unbehagen durch die zeichnerischen Darstellungen der einzelnen Unfallhergänge (gezeichnet von Franz Holl, Essen, L. Wilhelm, Bommern, und G. Haibach, Bochum) noch gesteigert. Man denke hier nur an die blutende Hand, an der ein Bergarbeiter aufgrund von „Nichtbeachtung der Handschutzvorrichtungen“ drei Fingerkuppen verloren hat (S. 143).

 

Abgeschlossen wurde das Lehrbuch durch ein sechstes Kapitel, das sich mit den „Unfallgefahren im Bergbau in zahlenmäßiger Darstellung“ befasste. Hierin wurde nicht nur die Häufigkeit der tödlichen Unfälle im Bergbau mit anderen „Gewerben“ verglichen. Es wurde auch der Nachweis geführt, dass der preußische Bergbau in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entgegen allgemeiner Erwartung (S. 397) sogar statistisch sicherer war als die deutsche Binnenschifffahrt oder das Fuhrwerkgewerbe (S. 399). Weiter ließ sich statistisch zeigen, dass der preußische Bergbau insbesondere seit Beendigung des Ersten Weltkriegs erheblich an Sicherheit gewonnen hatte, im Vergleich mit den ehemaligen Kriegsgegnern England und Frankreich jedoch noch immer beständig im Hintertreffen war. Als generelle Ursache beklagte man die heterogene Zusammensetzung der deutschen Belegschaften, was so in England und Frankreich nicht gegeben sei. Allein der Bergbau der USA wäre damals in noch stärkerem Ausmaß durch „ein buntes Völkergemisch“ (S. 412) gekennzeichnet gewesen, was sich Unfall steigernd ausgewirkt hätte.

 

Gerade der abschließende sechste Teil offenbart zwischen den Zeilen eine Reihe der tiefer liegenden Beweggründe, die in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die Erstellung und Veröffentlichung des „Bergmannsfreunds“ neben den von Fritz Heise im Vorwort dargelegten Motiven bedingten. Ausgehend von der verheerenden Schlagwetterexplosion auf der Dortmunder Schachtanlage Minister Stein im Jahre 1925, bei der mindestens 131 Bergleute gestorben waren, sollte sich der staatliche Durchgriff auf das preußische Grubensicherheitswesen nochmals erheblich steigern. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Etablierung des Grubensicherheitsamtes sowie an die Verschärfung zahlreicher Bergpolizeiverordnungen, die zeitlich weitgehend parallel zur Veröffentlichung des „Bergmannsfreunds“ liegen. Dies erklärt denn auch den besonderen Dank Fritz Heises an den damaligen Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses der Bergmännischen Berufsschulen und Oberbergrat am Oberbergamt in Dortmund, Heinrich Schlattmann (den späteren Oberberghauptmann und Ministerialdirektor im Reichwirtschaftsministerium) im Vorwort der ersten Auflage (S. 4). Schlattmann war beim Dortmunder Oberbergamt für allgemeine Arbeiterangelegenheiten sowie die Belange des bergbaulichen Gesundheits- und Sicherheitswesens zuständig, zur Problematik des Stein-und Kohlenfalls veröffentlichte er um 1930 gemeinsam mit Hugo Scheulen ein „Bilderbuch vom Steinfall“. Schlattmann hatte das Manuskript des „Bergmannsfreunds“ auf die Übereinstimmung mit den gerade verschärften bzw. noch in Überarbeitung befindlichen bergpolizeilichen Bestimmungen geprüft.

 

Historisch interessant ist darüber hinaus auch die zeitliche Nähe des ersten Erscheinens des „Bergmannsfreunds“ zur Gründung der Unfallverhütungsbild GmbH. Insgesamt nutzte das Bestreben um die Steigerung der bergbaulichen Sicherheit in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre auch neue mediale Formen. Zu denken ist hier beispielsweise auch an das Genre der Unfallverhütungsfilme, die wenig später unter anderem von der Bergbau-Berufsgenossenschaft in Auftrag gegeben wurden. Öfters scheint es, dass bei den Filmhandlungen mehr oder weniger direkt Anleihen bei den Unfallbeispielen des „Bergmannsfreunds“ genommen wurden.

 

Diese Überlegungen zur historischen Einordnung des „Bergmannsfreunds“ verweisen zugleich auf ein Manko der Reprint-Ausgabe von 2003. Zwar enthielt diese ein knappes Vorwort der Bergbau-Berufsgenossenschaft, doch sucht man darin sinnvolle geschichtliche Hintergründe zum ersten Erscheinen des Lehrbuchs vergebens. Damit wurde eine Chance für eine kritische Würdigung dieser für die Geschichte des Grubensicherheitswesens wichtigen Publikation nicht genutzt. Das im Vorwort der Neuauflage aus dem Vorläufer von 1927 entlehnte Argument, die Mehrzahl der Unfälle habe wie vor mehr als 70 Jahren „verhaltensbedingte Ursachen“, klang mit Blick auf die darin geschilderten Unfälle wenig plausibel. Den achtlos unter Tage rauchenden und im Umgang mit Flammen-Sicherheitsgeleucht nicht vertrauten Schlepper gab es im hochmodernen deutschen Steinkohlenbergbau der 2000er-Jahre definitiv nicht mehr.

 

01. September 2024 (Dr. Michael Farrenkopf)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum des Deutschen Bergbau-Museums Bochum (montan.dok)/Bibliothek 81/1, 81/2, 81/3, 224.

 

Farrenkopf, Michael: „Dein Kopf ist nicht aus Gummi“. Arbeitssicherheit, Unfallverhütung und Gesundheitsvorsorge, in: Kroker, Evelyn (Hrsg.): „Wer zahlt die Zeche?“ Plakate und Flugblätter aus dem Bergbau-Archiv Bochum, Bochum 1995 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 58; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 6), S. 86-91.

 

Farrenkopf, Michael: Schlattmann, Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie 23, 2007, S. 28-29. Unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd143148613.html#ndbcontent (Eingesehen: 22.07.2024).

 

Farrenkopf, Michael: „Zugepackt – heißt hier das Bergmannswort“. Die Geschichte der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen im Ruhrbergbau, unter Mitarbeit von Susanne Rothmund, Bochum 2010 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 178; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 22).

 

Farrenkopf, Michael/Ganzelewski, Michael: Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung. Katalog zur Sonderausstellung. Deutsches Bergbau-Museum Bochum vom 29. Juni 2014 bis 22. Februar 2015, Bochum 2014 (= Kretschmann, Jürgen/Farrenkopf, Michael [Hrsg.]: Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung, Bd. 2).

 

Kroker, Evelyn/Farrenkopf, Michael: Grubenunglücke im deutschsprachigen Raum, 2. überarb. und erw. Aufl., Bochum 1999 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 79; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 8).

 

Schlattmann, Heinrich/Scheulen, Hugo: Ein Bilderbuch vom Steinfall, Essen 1937.

 

Online-Portal: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=2991; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=4545 und https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=3127 (Eingesehen: 22.07.2024).