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Ein Schmuckbrikett – eine Spurensuche

Auch im ausgerufenen post-faktischen Zeitalter, in dem die Erzählung, das sogenannte Narrativ, zur geschichtswissenschaftlichen Währung erklärt wurde, gilt immer noch, was Achim Saupe plakativ auf den Punkt brachte: „Der Historiker als Detektiv“. Spurenlesen und Klarheiten erzeugen bleiben, allen Unkenrufen zum Trotz, das handwerkliche A und O der geschichtswissenschaftlichen „Rätsellösung“.

Ein solches Rätsel warf auch ein Schmuckbrikett (montan.dok 030002812022) auf, das gemeinsam mit 47 weiteren in der Sonderausstellung „Gras drüber ... Bergbau und Umwelt im deutsch-deutschen Vergleich“ gezeigt wurde. Hierbei handelte es sich um eines der 24 westdeutschen Schmuckbriketts, denen gleichviele aus Ostdeutschland gegenüberstanden. Es stammte, wie die Mehrheit der ausgestellten Stücke, aus der Sammlung von Josef Kau, die als weltweit größte ihrer Art gilt und seit den 1990er-Jahren in den Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, Leibniz Forschungsmuseum für Georessourcen, beheimatet ist.

 

Das ausgewählte Brikett wirkt mit dem Aufdruck „Start in die Zukunft“ fast etwas skurril. Ist es passend, wenn ein Arbeitsamt, das ebenfalls auf dem Brikett erwähnt wird, zur Zukunft aufruft, die zumeist vorerst in die Arbeitslosigkeit führt?

 

Dass dem mitnichten so ist, zeigte bereits die erste Spurensuche. Einzig das für 1993 geplante Auslaufen des Tagebaus Fortuna-Garsdorf hätte für eine solche arbeitslose Zwischenzeit eine gewisse Plausibilität, allerdings liegt der Tagebau nicht nur gut 40 km von Brühl entfernt, auch das präzise Datum ließ keinen zeitlichen Zusammenhang erkennen. Welche Ereignisse 1992 in und für Brühl waren also bedeutend? Der Besuch Königin Elisabeths II. und Prinz Philips dürfte eindeutig zu den Highlights des Jahres 1992 in Brühl gezählt haben, fand allerdings erst im Oktober statt. Ebenso bedeutsam erscheint die Verleihung der Ehrenplakette des Europarates, die die Stadt in Anerkennung der Förderung des europäischen Gedankens 1992 erhielt. Wiederum erwies sich das auf dem Schmuckbrikett genannte Datum als nicht passend und das Arbeitsamt als Akteur unglaubwürdig.

 

Gab es nationale Ereignisse, so die einleitende Fragestellung zur nächsten Spurensuche, die in einem Zusammenhang mit dem Zierbrikett gestanden haben könnten? Die Tagesschau zeichnete an diesem Tag ein apokalyptisches Bild, die Welt schien in Flammen zu stehen: Auf Korsika wüteten großflächige Waldbrände. Die Philippinen litten unter Schlammlawinen, der umgehende Monsun spülte die Asche des 1991 aktiv gewesenen Vulkans Pinatubo fort, tausende Menschen befanden sich auf der Flucht. In den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens herrschte Krieg, in Sarajevo grassierte eine Salmonellen-Epidemie und die UN zeichnete das düstere Bild eines Hungerwinters für die Region. Bürgerkrieg herrschte in Tadschikistan, für das der Ausnahmezustand verkündet wurde. Die europäischen Finanzminister beschworen auf ihrem Treffen in Bath, Großbritannien, das schwarze Bild einer wirtschaftlichen Rezession herauf, ursächlich, so der fast einhellige Tenor, hervorgerufen durch die deutsche Hochzinspolitik, eine gemeinsame Währungsunion schien damit in weite Ferne zu rücken. Und mitten in dieser Lage taumelte die Bundesrepublik. Bereits Ende August 1992 hatten Rechtsextremisten die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen angegriffen, begleitet von tätlichen Übergriffen auf die Polizei und unterstützt von Schaulustigen. In der Nacht vom 04. auf den 05. September reihten sich weitere gewaltsame Angriffe bzw. Angriffsversuche auf Asylsuchende ein, so beispielsweise in Eisenhüttenstadt, Lübbenau, Wesel und Gelnhausen. Der amtierende Bundespräsident Richard von Weizsäcker wollte dann am 05. September ein entschiedenes Zeichen gegen die um sich greifende Fremdenfeindlichkeit setzen und besuchte in Waren ein Asylbewerberheim. Kurzum: Die nationale und globale Nachrichtenlage des Tages ließ eine Zukunft erahnen, in der sich kein Mensch willkommen fühlen würde, in die er nicht starten wollte.

 

Zurück auf Anfang der Ermittlung: Was hatte es mit dem Schmuckbrikett auf sich? Das Brikett trägt auf der Oberseite die in verschiedenen Farben gehaltene Prägung „5.9.1992, Start in die Zukunft, Arbeitsamt Brühl“. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde es in der Brikettfabrik „Wachtberg“ (Frechen) von Rheinbraun hergestellt.

 

Dem Arbeitsamt Brühl ging es am 05. September 1992 nicht um große Politik, nicht einmal um Lokalpolitik. Es hatte schlechterdings zum „Tag der offenen Tür“ gerufen, um unterschiedlichen Firmen, die Fachkräfte suchten, die Möglichkeit der Präsentation zu geben. Gut 6000 Besuchende folgten diesem Ruf. Die von Rheinbraun produzierten Schmuckbriketts wurden zu diesem Anlass an die Besuchenden verteilt, womit das Rätsel seine Lösung findet.

 

Am Anfang war ein Schmuckbrikett. Nur für sich genommen kann es uns keine Geschichte erzählen, wir müssen es zum Sprechen bringen. Und es zeigt sich, dass das Befragen von Objekten Arbeit für und am kollektiven Gedächtnis ist; es kann Vergessenes oder Verdrängtes aktualisieren und das Verständnis der Gegenwart somit stets neu historisieren.

 

01. Juni 2023 (Dr. Torsten Meyer)

 


Literatur

Dank: Mein besonderer Dank geht an Eva Terhaag, Stadtarchiv Brühl, die unkompliziert kollegial die Spurensuche unterstützte. Ebenso danke ich Dr. Norbert Gilson, Aachen, und Andreas Ohse, Teuchern, bei der Lösung des Rätsels.

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum (DBM) 030002812022

 

Stadt Brühl. Der Bürgermeister: Wichtige Eckdaten der Brühler Stadtgeschichte. Unter: https://www.bruehl.de/stadtgeschichte.aspx (Eingesehen: 30.03.2023).

 

Ganzelewski, Michael: Braunkohlenbriketts als historische Zeugnisse. Unter: https://www.bergbau-sammlungen.de/de/aktuelles/braunkohlenbriketts-als-historische-zeugnisse (Eingesehen: 04.04.2023).

 

Geyer, Martin H.: Am Anfang war … die Niederlage. 1945, historische Kontingenz und die Anfänge der bundesdeutschen Moderne, in: Hansen-Löve, Aage A./Mülder-Bach, Inka (Hrsg.): Am Anfang war … Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne, München/Paderborn 2008, S. 279-306.

 

Krieger, Horst: Rote Rosen, grüne Äpfel und ein Sternkreiszeichen aus Metall, in: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 208, vom 07. September 1992, S. BG/KL 11.

 

Lausitzer Braunkohle Aktiengesellschaft (Hrsg.): Brikett im Wandel der Zeiten. Eine Ausstellung vom 8. April bis 12. Juni 1997 in der Betriebsstätte am Standort Schwarze Pumpe der Lausitzer Braunkohle Aktiengesellschaft, Senftenberg 1997.

 

Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983.

 

Saupe, Achim: Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009.

 

Tagesschau vom 05. September 1992. Unter: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video1171818.html (Eingesehen: 04.04.2023).

 

Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700-1815, München 1989.