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Schlachten auf dem Papier: Das Flugblatt als Medium der Meinungsbildung im Kampf um das Ruhrgebiet

Die Zeit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Soldaten 1923 gilt als eine der produktivsten Phasen der Flugblattherstellung. Die Propaganda auf deutscher Seite versuchte, die Besetzer als Barbaren zu diskreditieren und deren Präsenz im Ruhrgebiet als Verstoß gegen das Völkerrecht in den Köpfen der Bevölkerung zu verankern. Französische Flugblätter wehrten diese Vorwürfe ab und präsentierten die Ruhrbesetzung stattdessen als legitime und friedliche Maßnahme zur Durchsetzung der im Versailler Vertrag festgeschriebenen Reparationsverpflichtungen des Deutschen Reichs. Überlieferungen aus dieser Zeit zeigen aber auch, dass die Reihen der nationalen Fronten keineswegs immer so geschlossen waren.

Ein Beispiel für die komplexeren Konfliktlinien ist das abgebildete Flugblatt. Blickfang ist eine Zeichnung von George Grosz (1893–1959). Sie zeigt eine kräftige Hand, die einen Mann hinterrücks mit einem Dolch ersticht. Die Gebäude im Hintergrund ordnen die Szene in eine Industriekulisse ein. Über die Doppelkeilhaue und Grubenlampe lässt sich der Erstochene in locker sitzender Arbeitskleidung als Bergmann identifizieren. Die fleischige Hand stellt den Größenverhältnissen nach keine konkrete Person dar. Das angedeutete Hemd sowie die Anzugjacke, über die das Wort „Wucher“ gelegt ist, weisen diesem Bildelement die diffuse, aber wirkmächtige Rolle des Wirtschaftsbürgertums – wohl v. a. der Großindustriellen und Bankiers – zu. Grosz, der wegen seiner satirisch-anklagenden Illustrationen von gesellschaftlicher Ausbeute, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit immer wieder vor Gericht stand, ergreift demnach Partei für den Arbeiter, dem aus dem Hinterhalt das Leben genommen wird. Der dazugehörige Text, den der KPD angehörige Hermann Grothe (1888–1961) zu verantworten hat, stützt diese Interpretation. Die Profitgier „der Kapitalisten“ anprangernd, ruft er als Vorsitzender des (kommunistischen) Reichsausschusses deutscher Betriebsräte die Arbeiterschaft auf, sich gegen „Wucher und Lohndrückerei“ zur Wehr zu setzen und sich der lauernden Gefahr des Kapitalismus zu entledigen.

 

In Wort und Bild wird hier das Motiv der so genannten Dolchstoß-Legende aufgegriffen. Das dahinterliegende Narrativ sucht den Grund für die Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg nicht in militärischen Fehlentscheidungen der Obersten Heeresleitung. Schuld am Zusammenbruch seien hingegen Politiker demokratischer und linker Parteien, die durch Streiks an der ‚Heimatfront‘ und antimilitaristische Kampagnen die Streitkräfte unterminiert hätten. In den 1920er- und 1930er-Jahren ist die Formulierung, die deutschen Truppen seien quasi aus den eigenen Reihen heimtückisch von hinten ‚erdolcht‘ worden, englischen Generälen zugeschrieben worden. Aktuellere Forschungen legen hingegen dar, das die Idee vom ‚Dolchstoß‘ einem Korrespondenten der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ zu verdanken ist. Gegner der Weimarer Republik stilisierten diese dann zum politischen Schlagwort, mit dem den ‚Novemberrevolutionären‘ die Schuld an der schmachvollen Niederlage und ihrer gravierenden Folgen in die Schuhe geschoben werden sollte.

 

Dass die Zeichnung von Grosz einen Bergmann und keinen Vertreter einer x-beliebig anderen Berufsgruppe aus der Arbeiterschaft zeigt, ist hier kein Zufall. Dieses Bildelement stellt vielmehr die thematische Verbindung zur Ruhrbesetzung her. Den Weg in den Bestand der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG (BBA 32) fand es als Anlage zu einem Sitzungsprotokoll des Zechenverbands, welches den Vorstand im März 1923 erreichte. Darin ist zu lesen, dass „eine stärkere Bewegung unter den Kommunisten“ festgestellt worden sei. „Diese“, so heißt es dort weiter, „hätten an verschiedenen Stellen, z. B. in Essen, schon Hundertschaften gegründet, die bei Gelegenheit – unter Umständen mit den Franzosen zusammen – losschlagen würden.“ Aus diesem Grund zöge man in Gelsenkirchen in Erwägung, eine Schutzpolizei zu gründen, die von den Zechen mitfinanziert werden solle. Um dem Vorstand einen Eindruck von „dem Charakter der Kommunisten“ zu vermitteln, legte Berichterstatter Solberg das abgebildete Flugblatt bei, welches der darauf notierten Anmerkung zufolge „überall in Gelsenkirchen“ verteilt worden sein soll (vgl. montan.dok/BBA 32/4359).

 

Es mag an der Kurzlebigkeit des Mediums, der Provenienz oder dem Nachlassen kommunistischer Propaganda im Verlauf der Ruhrbesetzung liegen, dass dieses Flugblatt in den Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums das einzige seiner Art ist. Es erinnert daran, dass bestehende Konflikte nicht gänzlich hinter die nationale Krise traten. Das angeführte Beispiel ist dabei ein Beleg für die frühe Propaganda der Kommunistischen Partei Deutschlands, welche die Krise an der Ruhr als „ein Machtspiel zwischen deutschen und französischen Kapitalisten“ (Schröder, Deutsche und französische Kommunisten, S. 171) interpretierte. Die umgemünzte Dolchstoß-Legende demonstriert beispielhaft den letztlich erfolglos gebliebenen Versuch der radikalen Linken, die Arbeiterschaft im Ruhrgebiet gegen die Unternehmer mobilisieren zu wollen.

 

Die systematische Aufarbeitung von Plakaten und Flugschriften im Projekt Digitale Infrastrukturen im Deutschen Bergbau-Museum Bochum und virtuelle Zugänglichkeit zum Bergbauerbe eröffnet demnach einen besonderen Zugriff auf die Ruhrbesetzung jenseits dominanter Geschichtsnarrative.

 

01. April 2023 (Anna-Magdalena Heide, Dr. des.)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 32/4359, P 361

 

Grohmann, Will: Grosz, George, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, S. 161 f.

 

Hagen, Manfred: Das politische Plakat als zeitgeschichtliche Quelle, in: Geschichte und Gesellschaft 3, 1978, S. 412-436.

 

Heide, Anna-Magdalena/Przigoda, Stefan: Zwischentöne. Nuancen in der Propaganda zur Ruhrbesetzung, in: in: Forum Geschichtskultur Ruhr, 2023, H. 1 (im Druck).

 

Keil, Lars-Broder/Kellerhoff, Sven F.: Deutsche Legenden. Vom ‚Dolchstoß‘ und anderen Mythen der Geschichte, Berlin 2002.

 

Schröder, Joachim: Deutsche und französische Kommunisten und das Problem eines gemeinsamen Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung, in: Krumeich, Gerd/Schröder, Joachim (Hrsg.): Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004, S. 69-186.

 

Stremmel, Ralf: Zwischen Patriotismus und Geschäftsinteresse, Positionen der Industrie während der Ruhrbesetzung, in: Grütter, Heinrich-Theodor/Wuttke, Ingo/Zolper, Andreas (Hrsg.): Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925, Essen 2023, S. 79-91.

 

Weber, Hermann/Herbst, Andreas (Hrsg.): Deutsche Kommunisten: Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2008.

 

Wisotzky, Klaus: Die Ruhrbesetzung 1923 bis 1925 im Spiegel von Flugblättern und Karikaturen, in: ders./Wölk, Ingrid (Hrsg.): Fremd(e) im Revier!? Zuwanderung und Fremdsein im Ruhrgebiet: ein Projekt der Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010, Essen 2010, S. 260-281.