„Sind wir von der Arbeit müde, ist noch Kraft zu einem Liede“ oder wie Franz Schubert seinen Weg in den Bergbau fand
Die in einen schwarzen Eichenholzrahmen gefasste Reliefbüste des Komponisten (montan.dok 030003512001) wurde, wie eine dort angebrachte Plakette ausweist, von den „dankbaren Sängern A. v. Hansemann“ im Januar 1966 überreicht und befindet sich heute in den Musealen Sammlungen des montan.dok. Die Rückseite, die mit 54 Unterschriften versehen ist, beantwortet die Frage nach dem Empfänger sowie den Überbringern: „Zur steten Erinnerung unserm Verehrten Protektor Ludwig Gerstein; die Sänger des Quartett-Vereins. Adolf von Hansemann“.
Der 1923 unter dem Namen „Quartettverein Mengede“ im Norden Dortmunds gegründete Gesangsverein entstand im Umfeld der dortigen Zeche Adolf von Hansemann, auf die er ab 1935 mit der Umbenennung in „Quartettverein Adolf von Hansemann“ unmittelbar Bezug nahm. Der überwiegend aus Zechenbeamten bestehende Männerchor war überregional erfolgreich und wurde bereits wenige Jahre nach seiner Gründung 1928 beim „Deutschen-Sänger-Bundesfest“ in Wien mit einer Schubert-Plakette ausgezeichnet. Das Geschenk für Ludwig Gerstein zeigt, dass der Chor noch in den 1960er-Jahren aktiv war. Allerdings wissen wir nichts Genaueres über seine weitere Geschichte. Sicher ist, dass der Chor 2019 wegen Überalterung und Nachwuchsmangel endgültig aufgelöst wurde. Die Zeche Adolf von Hansemann existierte zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Ihr letzter Direktor von 1966 bis 1967 war Ludwig Gerstein (1928-1994), der sich in dieser Funktion als Protektor, d. h. Förderer, des Chors hervorgetan hatte.
Das anonyme Relief zeigt den Komponisten Schubert nach rechts blickend im Halbprofil mit der für ihn typischen Brille und einer modischen Halsbinde. Als Vorlage kommt eine Lithographie von Joseph Kriehuber (1800-1876) in Betracht, die wiederum die wenigen authentischen, zu Lebzeiten des Musikers entstandenen Porträts variiert. Das Relief steht damit in einer langen Reihe von Schubert-Bildnissen bzw. -Reproduktionen, die vom 19. bis weit in das 20. Jahrhundert für einen wachsenden Markt für Künstler- und Gelehrtenporträts, etwa in Büchern und auf Postkarten, hergestellt wurden.
Dass das Bildnis des Komponisten als Geschenk an einen Zechendirektor erscheint, verweist auf die Bedeutung Schuberts als Liedkomponisten und steht zugleich für eine enge Verbindung von Chorgesang und Bergbau. Dabei war von den Ursprüngen im 19. Jahrhundert her der Gesangsverein mit dem hier gepflegten mehrstimmigen Gesang ohne Instrumentalbegleitung eine durch und durch bürgerliche Institution: so als gemischter Chor in Singkranz und Singverein, wie auch als Männerchor in Liedertafel oder Quartettverein. Diese Art der Musikpflege fand jenseits bürgerlicher Geselligkeit dann gegen Ende des Jahrhunderts Eingang in die Welt der Industriearbeit. So kam es nach 1850 aus dem Arbeiterbildungswesen heraus zur Gründung von Arbeitergesangsvereinen, die sich 1877 zum Allgemeinen Arbeiter-Sänger-Bund zusammenschlossen.
In der Auswahl der Lieder unterschieden sich die meisten Arbeitergesangsvereine jedoch kaum von ihren bürgerlichen Vorläufern. Das gilt für eine Orientierung an populären Volksliedern ebenso, wie für die bevorzugten Komponisten Franz Schubert und Johannes Brahms (1833-1897), dessen Lieder und Chorwerke bis heute einen festen Platz im Repertoire haben. Um 1900 fand dann erstmals eine Kanonisierung der Lieder statt, wie etwa 1908 im „Volksliederbuch für Männerchor“ sowie zahlreichen weiteren Sammlungen. In der im Auftrag der Westfälischen Berggewerkschaftskasse (WBK) in den 1950er-Jahren herausgegebenen Liedersammlung „Bergleute singen“ sind von den insgesamt 111 Stücken nur 26 als Lieder mit Bergbaubezug bezeichnet. Sie fügen sich in einen Kanon von Klassikern, etwa Schuberts „Lindenbaum“, „Im Krug zum Grünen Kranze“ oder „In einem kühlen Grunde“ ein.
Die bergmännische Musik- und Chorkultur knüpfte an das bereits existierende bürgerliche Vereinswesen an, entwickelte es aber auf eigene Weise weiter. So beispielsweise im Homberger Knappenchor, der 1882 von Bergleuten der dortigen Rheinpreußen-Schachtanlage gegründet wurde und bei dem bis 1920 nur Bergleute zugelassen waren, oder im Männergesangsverein Schlägel und Eisen aus Dortmund-Eving von 1896, dessen Motto in der Festschrift zum 25jährigen Jubiläum lautete: „Sind wir von der Arbeit müde, ist noch Kraft zu einem Liede“.
Diejenigen die noch Kraft zu einem Liede fanden, waren dabei durchweg männlich und Vertreter der mittleren und oberen Hierarchieebenen des Bergbaus. Während Arbeitergesangsvereine als gemischte Chöre in ihren Reihen durchaus Frauen aufnahmen, bestanden die bergmännischen Gesangsvereine ausschließlich aus Männern und waren damit ein Spiegel der Welt unter Tage. Was die Tätigkeiten ihrer Mitglieder angeht, so handelte es sich dabei zumeist um Steiger oder Betriebsführer, aber auch Angestellte, Ingenieure und Betriebsdirektoren – das legen jedenfalls die Angaben aus einem Verzeichnis der fördernden Mitglieder des Knappenchors der Zeche Osterfeld in Oberhausen von 1968 nahe (vgl. montan.dok/BBA 180/17).
Seit den 1950er-Jahren profitierten die Chöre vom Interesse der Bergbauunternehmen an einer „sinnvollen Freizeitgestaltung“ ihrer Mitarbeiter und der damit verbundenen Absicht, angesichts einer immer geringeren Attraktivität des Berufsstandes sein Ansehen und die Bergbaukultur allgemein zu fördern. Dafür standen etwa die 1948 gegründete Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergarbeiterbetreuung (REVAG) und die Vereinigung der Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau (VfKK) aus dem Jahr 1947. Wichtigstes öffentliches Forum chorbezogener Aktivitäten war die von der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) organisierte und geförderte Konzertreihe „Bergleute singen für Bergleute“, an der sich zahlreiche Ruhrgebietschöre beteiligten und an die nicht nur Plakate (montan.dok/BBA P 46), sondern auch Gedächtnisobjekte wie Wandteller (montan.dok 030320114001) oder Kohlekeramiken (montan.dok 037000125001) erinnern. Mit dem Ende des Steinkohlenbergbaus in Deutschland 2018 verschwand die Vielfalt und die Tradition bergmännischer Gesangsvereine. Viele der Chöre haben sich aufgelöst oder leiden an Überalterung. Eine Ausnahme ist der 1987 von der damaligen RAG Aktiengesellschaft gegründete Ruhrkohle-Chor, der bis heute mit seinen ca. 100 Sängern die Erinnerung an den Bergbau und die lange Geschichte bergmännischen Singens im Ruhrgebiet aufrecht hält.
In den Musealen Sammlungen des montan.dok sind zahlreiche Objekte zur Geschichte bergmännischer Gesangsvereine insbesondere im Ruhrgebiet überliefert. Sie regen dazu an, sich mit dem Chorgesang als einem wichtigen Aspekt einer Kultur- und Sozialgeschichte des Bergbaus näher zu beschäftigen.
01. August 2022 (Dr. Stefan Siemer)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum 030003512001, 030320114001, 037000125001
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 180/17, P 46
Bergleute singen, Hagen o. J.
Brusniak, Friedhelm/Blankenburg, Walter: Chor und Chormusik, in: Lütteken, Laurenz (Hrsg.): MGG Online, Kassel/Stuttgart/New York 2016, zuerst veröffentlicht 1995. Online unter: www.mgg-online.com/mgg/stable/12430.
Cramm, Tilo/Mertens, Thomas: Die Zeche Adolf von Hansemann. Die Geschichte des Bergwerks in Dortmund-Mengede, Essen 1995 (= Schriften des Westfälischen Industriemuseums, Bd. 15).
Kift, Dagmar: „Bergleute singen für Bergleute“. Arbeiterchorbewegung und Kulturpolitik in Dortmund, in: Zaib, Volker (Hrsg.): Kultur als Fenster zu einem besseren Leben und Arbeiten. Festschrift für Rainer Noltenius, 2. Aufl., Bielefeld, 2003 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 9), S. 475-494.
Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergmannsbetreuung e.V. (Hrsg.): Die Bergmannschöre im Revier, Essen [1995].
Online-Portal: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=58253; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=64973; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=265279 und museum-digital. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1067244; https://nat.museum-digital.de/object/1068231; https://nat.museum-digital.de/object/1072032 (Eingesehen 27.07.2022).