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Ein Reisealbum aus dem Krieg

Im Bergbau-Archiv Bochum, unter dem Datenbankeintrag mit dem Titel „Zeit als Kriegsfreiwilliger beim Regiment Nr. 13“, findet man ein Fotoalbum mit elf beidseitig beklebten Blättern. Dieses vergleichsweise dünne Album wird von einem Einband mit ockerbraun gemustertem Stoff umspannt und durch eine Schnur zusammengehalten. Die Abbildungen sind auf dunklem Karton angeordnet und werden durch handschriftliche Notizen mit Datum und teilweise zusätzlichen Informationen kommentiert. Dieses Album erzählt die Geschichte des Kriegsfreiwilligen Theodor Albrecht in der Zeit zwischen August 1914 und Juni 1915.

Der am 10. April 1889 in Gladbeck geborene Sohn eines Bergwerksdirektors meldete sich mit seinem Bruder nach dem Abschluss des Bergbaustudiums freiwillig zum Kriegsdienst. Sein Militärdienst führte ihn u. a. nach Konstantinopel, Palästina und Russland. Die Fronteinsätze hinterließen ihre Spuren an seiner Gesundheit. Nach dem Krieg wurde Dr.-Ing. Theodor Albrecht Technischer Leiter der Kaliwerke Günthershall und Schwarzburg in Göllingen. Später wechselte er zu den im Aufbau befindlichen Werken Baden und Markgräfler. Während eines durch seine Kriegsleiden bedingten Aufenthaltes im Sanatorium bekam Albrecht die Nachricht vom schweren Grubenunglück in Buggingen mit 86 Todesopfern. Er erlitt daraufhin einen Nervenzusammenbruch, an dessen Folgen er am 15. Mai 1934 verstarb.

 

Auf der ersten Seite seines Albums (montan.dok/BBA 193/33) stellt sich Albrecht mit zwei Aufnahmen in Uniform vor, die ihn einmal in legerer Kleidung und einmal in repräsentativer Ausstattung mit Helm und Säbel zeigen. Sie markieren seinen „Eintritt als Kriegsfreiwilliger 3. August 1914“ und zugleich seinen sozialen Stand.

 

Auf den nächsten vier Seiten folgen Zeichnungen russischer, teilweise berittener Soldaten aus dem November 1914. Die ersten vier Darstellungen sind Bleistiftzeichnungen, die nicht von Albrecht signiert sind. Die Soldaten sind in gedrungener Pose dargestellt und weisen asiatische Gesichtszüge auf. Sie bilden bei der Betrachtung einen Kontrast zu dem auf der vorigen Seite dargestellten Kriegsfreiwilligen in Paradeuniform. Die nächsten vier Abbildungen sind Kunstdrucke, die vergleichbare Motive zeigen. Die Truppen werden als Kosaken, Donkosaken und Tscherkessen-Reiter bezeichnet. Signiert sind die Zeichnungen mit „J. Wijenski“. Gemäß Recherche in Auktionskatalogen handelt es sich um Jowz Wijenski. Hier wird die Intention des Zusammenstellers erkennbar, seine grafisch dargestellten subjektiven Eindrücke durch die eines professionellen Kunstschaffenden zu belegen.

 

Der nächste Abschnitt des Albums ist Albrechts Kameraden gewidmet. Zwei Bilder thematisieren seinen Aufenthalt im Lazarett zu Beelitz vom 18. November 1914 bis 06. Januar 1915: eine Gruppenaufnahme mit verwundeten Kameraden, Ärzten und Pflegerinnen sowie ein Standportrait Albrechts mit verbundenem rechten Arm in der Schlinge. Die Aufnahmen auf der nächsten Seite sind auf den 16. März 1915 datiert und zeigen drei distinkte Gruppen von Soldaten in fröhlicher Runde beim „Feldmäßigen Abkochen auf der Vahrenwalder Heide“.

 

Hierauf folgen sechs Bleistiftzeichnungen von Albrecht selbst, die sein Quartier und den benachbarten Ort Jezów zeigen. Entstanden sind sie zwischen dem 11. und 19. April 1915. Im Feldpostbrief vom 16. April 1915 (montan.dok/BBA 192/2) erzählt Theodor Albrecht seiner Mutter von dem neuen Quartier, welches er mit Kameraden bezogen habe, und dass sie wegen der Enge in der Stube auf eine „Bretterbude“ ausgewichen seien. Die erste Zeichnung zeigt eine Situation in der Stube: „Es sind dort als Bewohner 2 Männer, 2 Frauen, 8 Kinder, 1 Huhn, 10 Küken, 1 Katze und anderes Getier“. Ein weiteres Bild zeigt den Hof auf einer Anhöhe von außen. Weiter im Brief geht er auch auf Jezów ein, einen Ort, den er als „[…] große Annehmlichkeit deshalb, weil wir dort allerlei kaufen können, […]“ bezeichnet. Die letzten zwei Zeichnungen in dieser Serie zeigen durch den Krieg zerstörte Gebäude und Landschaften. Im Brief vom 14. Mai 1915 aus dem Schützengraben an der Rawka schildert Albrecht seiner Mutter seine Erlebnisse auf dem Posten an der Wassermühle, die Gegenstand einer der Zeichnungen ist. Er geht dabei auch auf die dortigen Kampfhandlungen ein (montan.dok/BBA 193/2).

 

Als Trenner zwischen zwei thematischen Abschnitten ist eine Bleistiftzeichnung von Schrader, die Theodor Albrecht zeigt, eingefügt. Schrader, vermutlich ein Kamerad Albrechts, zeichnete ihn im Profil in nachdenklicher Pose und unterschrieb sein Werk mit dem Namen des Abgebildeten sowie seiner Einheit.

 

Weitere Aufnahmen zeigen die Stadt Jezów. Dabei handelt es sich um Fotopostkarten eines Feldgottesdienstes, der polnischen Kirche und des Wilhelmsplatzes. Nach den Sehenswürdigkeiten der Stadt werden in dem Album Bewohnerinnen und Bewohner der Region dargestellt. Darunter sind sechs Drucke des bereits benannten Jowz Wijenski. Vier sollen Juden darstellen. Das erste Bild zeigt einen Mann im Profil mit Vollbart und einer sehr markanten Nase. Im zweiten Bild ist ein älterer Mann mit wallendem, grauen Bart und einem Schtreimel, einer jüdischen Kopfbedeckung aus Pelz, abgebildet. Die nächsten zwei Bilder zeigen wieder bärtige, ältere Herren mit markanten Gesichtszügen. Abschließend sind zwei Männer im Profil zu sehen, die sich sowohl anhand der Kleidung als auch der Gesichtszüge von den vorherigen unterscheiden.

 

Auf den nachfolgenden Seiten bedient sich der Autor wieder der Fotografie zur Darstellung des Erlebten. So zeigen zwei Fotografien eine polnische Bäuerin und zwei Jugendliche, die als „Lumpensammler“ bezeichnet werden. Zwei Fotopostkarten aus der Reihe „Typen von Lodz“ sollen vermutlich zwei charakteristische Personen aus dem Stadtbild von Lodz zeigen. Dabei handelt es sich um einen gedrungenen, kleinen Mann mit Bauchladen, der Schuhcreme, Streichhölzer und ähnliches anbietet und einen Handwerker mit Säge und Werkzeugkasten. Die beiden Bilder sind auf den Juni 1915 datiert. Anscheinend aus der gleichen Zeit stammen auch zwei Aufnahmen, die den Blick von den Menschen wieder auf die Landschaft, Städte und Dörfer richten sollen. Das vermerkte Datum, Juni 1915, scheint nicht mit dem Aufnahmedatum übereinzustimmen. Das sieht man vor allem am Schnee, der noch auf den Feldern liegt und an den kahlen Bäumen, die auf beiden Aufnahmen gut zu sehen sind.

 

Den letzten Abschnitt bilden vier Aufnahmen von russischen Kriegsgefangenen. Auf den letzten beiden Fotografien sind in erster Linie Soldaten mit einer Papacha, einer kaukasischen Wollmütze, zu sehen. Sie stehen isoliert von anderen Gefangenen und sind von deutschen Soldaten in Pickelhauben umgeben.

 

Das vorliegende Album hat die Form und Zusammensetzung eines Reisealbums. Der Autor hat nachträglich seine Erinnerungen und Eindrücke aus seiner „Reise“ zusammengefasst und in geordneter Weise für die Betrachtung durch Dritte präpariert. Durch den hohen Anteil an Abbildungen anonymer Menschen, erkennt man Albrechts Intention, sie als Kuriosum zu präsentieren. Das Album erweckt den Eindruck eines ethnografischen Reisealbums, in dem Neugier und Euphorie den Fünfundzwanzigjährigen auf eine Entdeckungsreise inmitten des Kriegsgeschehens führt und deren Ergebnisse er dokumentiert. Sichtbar wird das nicht nur bei den überzeichneten Gesichtszügen der Juden oder in den Zeichnungen der Soldaten, sondern vor allem bei der Auswahl der fotografierten Russen. Auf den Einzeldarstellungen sind größtenteils Männer in Papachen zu sehen, obwohl man in Gruppenaufnahmen mehr Männer in Feldmützen sieht. Andererseits ist es möglich, dass Albrecht als Kavallerist seinen berittenen Gegenübern auch Respekt durch die Fotografien zollen wollte.

 

Das Montanhistorische Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum sammelt und verwahrt eine große Bandbreite an Fotoalben. Neben dem hier vorgestellten Typus eines Reisealbums befinden sich repräsentative Prachtalben großer Bergbauunternehmen, Werks- und Produktalben von Bergbauzulieferern, Geschenkalben für Bergbeamte, Porträtalben zur Repräsentation sowie amateurhafte Sammelalben und viele andere in den Beständen. Zur Vereinfachung der Zugänglichkeit für die Forschung sowie aus konservatorischen Gründen werden aktuell die in den Beständen des Bergbau-Archivs Bochum und der Fotothek befindlichen Fotoalben vorrangig digitalisiert. Diese Maßnahme wird das spezifische Genre Fotoalbum für die Historiographie als zusätzliche Quellengattung eröffnen und die Handhabung vereinfachen.

 

01. Juli 2021 (Rodion Lischnewski)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 193/2, 193/33

 

Farrenkopf, Michael/Przigoda, Stefan: Visuelle Präsentationsformen bergbaulicher Eliten zwischen privater Erinnerung und öffentlicher Darstellung, in: Füßl, Wilhelm (Hrsg.): Von Ingenieuren, Bergleuten und Künstlern. Das Digitale Porträtarchiv „DigiPortA“, München 2020 (= Deutsches Museum Studies, 6), S. 71-85.

 

Herz, Rudolf: Gesammelte Fotografien und fotografierte Erinnerungen. Eine Geschichte des Fotoalbums an Beispielen aus dem Krupp-Archiv, in: Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München [1994] 2000, S. 241-267.

 

Pagenstecher, Cord: Private Fotoalben als historische Quellen, in: Zeithistorische Forschung/Studies in Contemporary History 6, 2009, Heft 3, S. 449-463.