Wo kommen die Zechenarbeiterinnen auf der Hängebrücke her – und wo gehen sie hin?
„Hans Baluschek, wie Käthe Kollwitz ein Vertreter des Berliner Realismus, stellte in seinen Bildern deutlich das Elend der Arbeiterschaft heraus. (…) Solche den Idealen der ‚offiziellen‘ akademischen Kunst völlig konträren Bilder des sozialen Elends wurden von Kaiser Wilhelm II. anlässlich der Einweihung der mit historischen Skulpturengruppen ausgestatteten Siegesallee 1901 verächtlich als ‚Rinnsteinkunst‘ abqualifiziert. Das von Kaiser Wilhelm II. geprägte Verdikt der ‚Rinnsteinkunst‘ interpretierten die von ihm abgelehnten Künstler (…) jedoch als eine Art Auszeichnung ihrer Rolle als Avantgarde-Künstler“ (Birthälmer, S. 68).
Wie gelangt also ein solches – vormals als Rinnsteinkunst deklassiertes – Werk in die Sammlungen eines technikhistorischen Museums mit Schwerpunkt Bergbau? Der Titel „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ (montan.dok 033303908001) allein kann es nicht gewesen sein. Ein Blick auf das Dargestellte mag mehr Aufschluss bieten. Bei der Aufnahme in die Bestände des Museums wurde die Szene wie folgt auf der Karteikarte festgehalten: „Über die von einer Lampe erhellte Hängebrücke auf dem Gelände einer Schachtanlage gehen fünf Arbeiterinnen verschiedenen Alters zur Arbeit. Sie sind mit Arbeitsjacke, Rock und Schürze bekleidet und haben Kopftücher umgebunden. Das junge Mädchen, vorne links, trägt eine Frühstückstasche, drei andere Frauen haben Kaffeeflaschen in der Hand. Im Hintergrund die Umrisse eines Fördergerüstes, mehrerer rauchender Kamine und weiterer, zum Teil beleuchteter Tagesanlagen. Links und rechts sind am Rande hoch aufragende Kohlenhalden angedeutet.“
Das Aquarell (49,4 cm x 65 cm) von Hans Baluschek (1870-1935) aus dem Jahr 1913 wurde 1966 für die Musealen Sammlungen des damaligen Bergbau-Museums Bochum im Rahmen einer Versteigerung für 690,00 DM bei Carola von Ham, Kunsthaus am Museum in Köln, erworben. Der Ankauf erfolgte noch unter der Direktorenschaft von Dr.-Ing. Heinrich Winkelmann, der Kaufvertrag hingegen wurde von seinem Nachfolger Hans Günter Conrad unterzeichnet. Im Eingangsbuch (montan.dok/BBA 112/6209) wird unter der laufenden Nummer 449 am 28. März 1966 damals ohne Namen des Künstlers „1 Aquarell, Grubenarbeiterin“ vermerkt. Weitere Angaben zu Gründen und Ambitionen des Erwerbs lassen sich heute nicht mehr nachvollziehen.
Ausgestellt wurde das Aquarell lange Zeit in der Kunsthalle des Museums. Zu sehen war Baluscheks Aquarell 1989 dann auch in der hauseigenen Sonderausstellung „Frauen und Bergbau – Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten“, die „aufgrund ihrer Eindrücklichkeit und ihrer ungebrochenen Aktualität“ (Slotta, S. 807) in die damalige Dauerausstellung integriert wurde. Bevor es seit 2019 im Rundgang „Kunst. Vision und Wirklichkeit“ der neuen Dauerausstellung gezeigt wird, wurde das Bild einer gründlichen Restaurierung unterzogen. Dabei wurden nicht nur der alte Rahmen, das alte Passepartout und nicht sachgemäße Klebestreifen auf der Rückseite des Aquarells entfernt, es wurden auch zwei Aufkleber mit den vermeintlichen Bildtiteln entfernt, die vermutlich beide im Rahmen von Leihgaben aufgebracht wurden und kurioserweise zwei verschiedene Bildtitel und eine falsche Inventarnummer aufweisen: „Baluschek, Hans / Zechenarbeiterinnen auf der Brücke / Aquarell 1913 / Sig. 3303920“ und „Hans Baluschek / Zechenarbeiterinnen auf der Hängebank 1913 / Aquarell / Deutsches Bergbau-Museum, Bochum“. Heute wird es als „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ geführt, an Datierung und Kunstgattung hat sich nichts verändert. Vermutlich ist der erstgenannte Aufkleber vor dem zweitgenannten zu datieren, eine gesicherte Angabe lässt sich dazu jedoch nicht machen.
„‚Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze‘, so hatte Kunstkritiker Willy Pastor zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Reaktionen von Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern auf die Arbeiten Hans Baluscheks zusammengefasst. Baluschek, als Sohn eines Eisenbahningenieurs in Breslau geboren, hatte an der Königlichen Akademie der bildenden Künste in Berlin studiert, sich in seiner Motivwahl aber nicht von der dort propagierten Historienmalerei leiten lassen. In seinen Arbeiten werden die Gesichter der Großstadt mit all ihren Facetten sichtbar, er malt die Lichter der Stadt und ihre dunklen Seiten, er macht Ursache und Wirkung erkennbar“ (Horb).
Insbesondere der Schilderung von Frauen widmete Baluschek große Aufmerksamkeit in seinen Werken. Im Zuge der Entwicklungen seit der Industriellen Revolution waren sie als Arbeiterinnen, Ehefrauen, Mütter vermehrt Belastungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Oft mussten sie zum Lebensunterhalt der Familien beitragen oder als Alleinstehende die eigene Existenz sichern. Dabei waren sie nicht selten körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt und liefen Gefahr, in Obdachlosigkeit, Prostitution oder völlige Verarmung abzugleiten (vgl. Hinz). Durch die von Baluschek im vorliegenden Aquarell gewählte Perspektive scheinen die Frauengestalten im Verhältnis zu den Industrieanlagen im Hintergrund übermäßig groß. „Das verleiht ihnen aus künstlerischer Sicht eine Würde, die das soziale System ihnen nicht gewährt“ (Birthälmer, S. 91).
Nicht wenig verwunderlich für Verortung und Inhalt des Aquarells sind die vornehmlich dunklen Farben, die auch durch im Vergleich dazu außerordentlich hell erscheinende Laternenbeleuchtung nicht heller wirken: „Meist wird Baluscheks Farbpalette von grauen oder dunklen Farben beherrscht, die seiner angestrebten Bildaussage entsprechen. In einem Brief äußerte er sich selbst über seine Malweise: ‚Ich male sehr wenig in Öl, nur meine ganz großen Arbeiten sind in dieser Technik gemalt. Meine bisherigen Arbeiten sind Aquarelle – oder besser Gouache. (…) Mir war die Ölfarbe für diesen Zweck zu satt und zu speckig, außerdem gestattet sie mir bei den verhältnismäßig kleinen Formaten nicht den scharfen Ausdruck der Gesichtslinien meiner Figuren und gewisse andere Einzelheiten (…).‘ Trotz der vielen Figuren auf seinen Bildern arbeitete er jedoch nicht mit Modellen. Modellstudien fehlen in seinem Werk – bis auf frühe Arbeiten aus der Akademiezeit. Die vielen Gesichter und Typen setzte er aus seiner Vorstellung in die Bildkomposition ein“ (Widerra, S. 16 f.).
Die Sonderausstellung „Vision und Schrecken der Moderne – Industrie und künstlerischer Aufbruch“ geht im Von der Heydt-Museum in Wuppertal der Frage nach, wie sich die kulturellen und sozialen Aspekte der Industrialisierung in der Kunst niedergeschlagen haben. Von der Technikfaszination über die schwierigen Lebensbedingungen des Proletariats, von tiefgreifenden Veränderungen der Landschaft und des urbanen Lebens bis zum Wandel der Wahrnehmung unter dem Einfluss der Technisierung spannt die Schau einen großen Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Ausstellung kann bis zum 11.07.2021 unter den aktuellen Schutzauflagen besucht werden. Einen digitalen ersten Eindruck der Ausstellung erhalten Sie auf der Website des Museums.
So können wir also heute feststellen, wohin sich Baluscheks Aquarell auf die Reise gemacht hat. Nicht ganz zufriedenstellend beantwortet werden kann die Frage, wie das Bild in die Musealen Sammlungen des „montan.dok“ kam. Auch wenn im Projekt montan.dok 21 umfangreiche Erschließungsarbeiten sowie intensive Bestandsarbeiten z. B. an der hauseigenen Gemäldesammlung getätigt wurden: Nicht alle offenen Fragen können auf Basis von Archivalien beantwortet werden, wenn die entsprechenden Antworten nicht überliefert wurden.
01. Mai 2021 (Wiebke Büsch, M.A.)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 033303908001
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 112/6209
Birthälmer, Antje: Das Proletariat als Sujet der Kunst von Klinger bis Hoerle, in: Birthälmer, Antje/Mönig, Roland: Vision und Schrecken der Moderne – Industrie und künstlerischer Aufbruch. Mit Beiträgen von Antje Birthälmer, Beate Eickhoff, Herfried Münkler und Anna Storm, Wuppertal 2020, S. 67-142.
Hinz, Sylvia: Baluschek und die Frauen des Proletariats, in: Hoffmann, Tobias/Grosskopf, Anna/Reifferscheidt, Fabian (Hrsg.): „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“. Hans Baluschek zum 150. Geburtstag, Ausstellungskatalog Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, Berlin 2020, Köln 2020, S. 84-105.
Horb, Ulrich: Hans Baluschek – zu viel Pfütze im Bild. Zitiert nach: https://geschichten-aus.berlin/hans-baluschek-zu-viel-pfuetze-im-bild/; abgerufen am 07.04.2021.
Slotta, Rainer: Die Sonderausstellungen, in: Ders. (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum Bochum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bd. 2, Bochum 2005 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 134), S. 10-76.
Widerra, Rosemarie: Hans Baluschek. Leben und Werk. Sonderausstellung anlässlich des 100jährigen Bestehens des Märkischen Museums, Berlin 1974.
Frauen und Bergbau: Zeugnisse aus 5 Jahrhunderten; Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 29. August – 10. Dezember 1989, Bochum 1989 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 45).