Skip to main content

Ein ganzes Leben zwischen Zelluloid und Kautschuk

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus hinterließ in der archivalischen Überlieferung des deutschen Steinkohlenbergbaus eine umfangreiche Sammlung an Personalunterlagen. In bürokratischer Tradition wurde auf einigen Zechen jeder Zwangsarbeiterin und jedem Zwangsarbeiter eine Personaltasche zugeordnet. Diese äußerlich kaum unterscheidbaren Zeitkapseln beinhalten teilweise Artefakte individueller Schicksale.

Die äußere Form der Personaltaschen ist durch ihre Funktion bestimmt: Auf vorwiegend roten Umschlägen wurden in einer aufgedruckten Tabelle Eckdaten der jeweils betroffenen Person systematisch erfasst. Neben Name, Geburtsort und -datum wurden Belegschaftsdaten verzeichnet. Hierzu gehörte die Markennummer. Sie ermöglichte die persönliche Identifikation im Betrieb und die Nachverfolgbarkeit in weiteren Unterlagen. Insgesamt fünf Spalten boten genug Platz für Auflistungen betrieblicher Angaben. Für jede Anstellung der Arbeitenden auf der Zeche wurde eine eigene Spalte genutzt. Dort wurden jeweils Dienstantritt, ausgeübte Tätigkeit, Familienstand, Wohnort sowie Einzelheiten zur Abkehr eingetragen.

 

Äußerlich unterscheidet sich die Personaltasche des Zwangsarbeiters Fjodor Kossolapow (montan.dok/BBA 43/7936) nicht wesentlich von den vielen Tausenden anderen, die heute noch überliefert sind. Auf der Vorderseite sind Geburtsdatum und -ort, Daten der ersten Anlegung sowie drei Markennummern des Arbeiters verzeichnet. Es ist vor allem die Materialität eines in der Tasche enthaltenen Objektes, die diesen Teil der Überlieferung des Dortmunder Bergwerks Ver. Stein & Hardenberg bemerkenswert macht.

 

Chronologisch bildet den Anfang ein Ersatzausweis vom 10. Mai 1940 für einen Pass, der sich bei der Fabrikleitung befand. Name und Ort der Fabrik sind auf dem Stempel nicht mehr lesbar. Zusätzlich enthält der Ausweis einen Stempel der Arbeitsbehörde Taganrog in deutscher Sprache vom 15. April 1942. Das zweite Dokument, das aus dem südrussischen Taganrog stammt, ist ein am gleichen Tag ausgestellter Arbeitslosenausweis der Arbeitsbehörde Taganrog. Vorne ist die Anschrift in Russisch „31 Werk Haus 24/26 V“ notiert. Auf der Rückseite befindet sich ein Stempel mit der Aufschrift „Angeworben für Reich“ und als letztes Datum ist der 21. Mai 1942 eingetragen.

 

Laut Vermerk auf der Personaltasche trat Fedor Kossolapow am 10. Juni 1942 seinen Dienst unter Tage in Dortmund an. Bereits am 23. Juni 1942 wurde er nach über Tage verlegt. Dies geht aus einer ebenfalls in der Personaltasche befindlichen Nachricht des Lagerführers Köhler an Betriebsführer Köllermann hervor. Er bezog sich darin auf den Lagerarzt Dr. Richter und teilte mit, dass Kossolapow unter „Epilipie [sic!]“ leide und deshalb nach über Tage verlegt werden müsse.

 

Das letzte Schriftstück der Tasche unterscheidet sich vor allem durch seine überlieferte Form von allen anderen. Es handelt sich um eine auf Pergaminpapier gedruckte Bescheinigung, welche den Inhaber „[…] berechtigt, das Gelände der Flugzeugfabrik zum Barackenbau zu betreten“. Die Bescheinigung ist durch Hauptmann Kimmich gezeichnet und enthält einen heute unlesbaren Stempel. Als erstes fällt die Materialität des Objektes auf. Dieses dünne Papierstück ist zum Schutz zwischen eine durchsichtige Kunststoffscheibe und eine Schicht gummierten Stoff eingenäht. Die Naht besteht aus mindestens drei unterschiedlichen Fäden, die durch händisch geschlagene Löcher geführt sind. Die ca. 1,5 mm starke Zelluloidplatte misst 15,5 x 11,5 cm und ist nur grob rechteckig ausgeschnitten, die Ecken sind abgerundet. Das Textil auf der Rückseite ist dunkelgrau mit deutlicher Gewebetextur. Hier ist Kossolapows Markennummer doppelt notiert. Die andere, zum Schriftstück gewandte Seite ist schwarz gummiert. Die Schutzhülle weist insgesamt Spuren einer improvisierten Anfertigung auf.

 

Welche Bedeutung muss ein kleiner Papierfetzen im Leben dieses Mannes gehabt haben, dass er ihn mit so viel Mühe konservieren wollte? Und woher kam das Material dazu? Vor allem der Hinweis auf eine Flugzeugfabrik legt nahe, dass es sich vermutlich um Reste aus laufender Produktion handelt. Gummierten Stoff nutzte man im damaligen Flugzeugbau zur Bespannung z. B. von Steuerflächen, Zellulosenitrat wurde hier ebenfalls verwendet. Doch von welcher Flugzeugfabrik ist die Rede?

 

Um diese Frage zu beantworten, wurde das Spezialinventar „Zwangsarbeit im Ruhrbergbau während des Zweiten Weltkrieges“ von Holger Menne und Dr. Michael Farrenkopf zurate gezogen. Die Suche innerhalb der relevanten Archivbestände anhand des Inventares brachte allerdings keinen Nachweis eines Zwangsarbeitereinsatzes in einer Dortmunder Flugzeugfabrik hervor.

 

Das Stadtarchiv Dortmund veröffentlichte 2013 die Karte „Zwangsarbeit in Dortmund 1939 – 1945“, die u. a. alle bekannten Zwangsarbeiterlager und Betriebe, die Zwangsarbeiter ausbeuteten, verzeichnet. Eine Flugzeugfabrik ließ sich auf der Karte nicht finden. Die Anfrage beim Stadtarchiv Dortmund ergab, dass keine Flugzeugfabrik genannt wird und der Einsatz von Zwangsarbeitern zur Wartung der Jagdflugzeuge auf dem Flugplatz unwahrscheinlich sei.

 

Nach dem Ausschlussverfahren muss der Passierschein daher auf die Zeit vor der Verschleppung nach Deutschland zu datieren sein. In Taganrog befand sich, bis zu seiner Evakuierung im September 1941 nach Tiflis, das Flugzeugwerk Nr. 31. Hier wurden bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vornehmlich Flugzeuge des Experimental-Konstruktionsbüros OKB-49 Berijew produziert. Von Oktober 1940 bis zur Evakuierung wurden LaGG-3 Jagdflugzeuge gebaut. Es besteht die Möglichkeit, dass sich die ausgestellte Bescheinigung auf diese Flugzeugfabrik in Taganrog bezieht.

 

Für diese These spricht auch die Notiz auf dem Arbeitslosenausweis mit der Anschrift Kossolapows. Demnach wohnte er auf dem Fabrikgelände in der Baracke „24/26 V“. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen liest sich der Begriff „Barackenbau“ im Passierschein als eine Wohnanlage und nicht wie eine Bautätigkeit. Das zur Konservierung verwendete Material unterstützt diese Annahme. Womöglich befanden sich noch Reste auf dem Werksgelände, aus denen der Schutz für den Passierschein hergestellt wurde.

 

Aus dem bisher Bekannten lässt sich ein Einzelschicksal inmitten eines Massenphänomens rekonstruieren: Der im Kreis Kursk am 19. Februar 1906 geborene Fjodor Ivanovitsch Kossolapow war Arbeiter in einer Fabrik der südrussischen Stadt Taganrog. Knapp sechs Monate nach Besetzung der Stadt wurde Kossolapow als arbeitslos registriert. Zu diesem Zeitpunkt lebte er in einem Barackenlager auf dem Gelände des ehemaligen Flugzeugwerkes 31. Zum Betreten seiner Unterkunft auf dem Gelände wurde ihm ein Passierschein ausgehändigt, den er mit vorhandenen Mitteln möglichst haltbar machen wollte. Offenbar wurde er einen Monat später nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt. Die schweren Bedingungen unter Tage provozierten bei ihm wohl epileptische Anfälle, woraufhin er über Tage eingesetzt wurde. Seine letzte Schicht verfuhr Kossolapow am 27. März 1945. Wie sein weiteres Schicksal nach der Befreiung aussah, lässt sich aus den vorhandenen Unterlagen nicht rekonstruieren. Es ist nur bekannt, dass er am 08. Juni 1945 „m[it] Genehmigung“ als Tagesarbeiter von der Zeche abgekehrt ist.

 

Die RAG Aktiengesellschaft überließ 2012 dem Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum ein Konvolut aus Personalunterlagen ausländischer Zwangsarbeitenden. Die überlieferte Sammlung umfasst insgesamt 18 laufende Meter. Darunter befinden sich Personalien von Zwangsarbeitenden der Bergwerke Shamrock, Westhausen, Zweckel/Scholven und Ver. Stein & Hardenberg. Diese Unterlagen werden zurzeit im montan.dok systematisch erfasst und verzeichnet. Die Nutzbarmachung dieser wichtigen Quellen dürfte der Forschung zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit im deutschen Steinkohlenbergbau zukünftig neue Impulse geben, wie das hier vorgestellte Beispiel zeigt.

 

01. September 2020 (Rodion Lischnewski)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 43/7936

 

Huske, Joachim: Die Steinkohlenzechen im Ruhrrevier. Daten und Fakten von den Anfängen bis 2005, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bochum 2006.

 

Menne, Holger/Farrenkopf, Michael (Bearb.): Zwangsarbeit im Ruhrbergbau während des Zweiten Weltkrieges. Spezialinventar der Quellen in nordrhein-westfälischen Archiven, Bochum 2004.

 

Seidel, Hans-Christoph: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Verbände – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter, Essen 2010.