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Kauenlatschen für die Ewigkeit

Als der kurz vor seiner Anerkennung als Bergbaubeflissener stehende Helmut Linke am 04. April 1952 seine erste Schicht auf der Zeche Friedrich Heinrich 1/2 in Kamp-Lintfort verfuhr, hat er wohl nicht daran gedacht, Teile seiner Arbeitskleidung eines Tages einem Museum zu schenken. Ganz andere Gedanken werden ihm durch den Kopf gegangen sein.

Gut 60 Jahre später war die Freude groß, als der mittlerweile in Celle lebende Linke dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum (DBM) eine Jacke (montan.dok 030007756002), eine Hose (montan.dok 030007756003), eine Lederkappe (montan.dok 030007756001), ein Paar Kauenlatschen (montan.dok 030007756005) und ein Paar Knieschoner (montan.dok 030007756004) aus seiner Zeit als Bergmann schenkte. Die Kleidung und wohl auch die Kauenlatschen und Knieschoner hatte er von der Zeche gekauft. Der Betrag wurde ihm direkt von seinem Lohn abgezogen. Zwar war die Arbeitskleidung damals schon normiert, doch mussten die Bergeleute selbst für deren Kosten aufkommen. Es sollte noch bis in die 1970er-Jahre dauern, bis die Bekleidung und Artikel für Körperpflege wie Seife und Handtücher den Bergleuten im rheinisch-westfälischen Bergbau kostenlos zur Verfügung gestellt wurden.

 

Als Linke sein Paar erwarb, waren Kauenlatschen noch nicht ganz selbstverständlich für jeden Bergmann, wie Harald Schwarz in seiner Untersuchung zu Waschkauen im Ruhrgebiet zu berichten weiß. 1955 ergab eine Befragung, dass knapp 13 Prozent der Bergleute barfuß liefen. Wie sinnvoll aber ein Tragen einer Fußbekleidung sei, arbeitet der am Hygiene-Institut der Universität Münster tätige Wissenschaftler deutlich in seiner Studie heraus. Helfen sie doch gegen Fußpilzbefall und vermindern die Rutschgefahr auf nassen Böden erheblich.

 

In den 1950er-Jahren wurden immer häufiger von den Zechen „Pantinen“, wie die Kauenlatschen auch genannt werden, gesammelt eingekauft und dann zu günstigen Preisen an die Belegschaft weitergeben. In dieser Zeit seien recht unterschiedliche Ausführungen anzutreffen gewesen. Gut die Hälfte seien aus Holz, gut 40 Prozent aus Gummi und gut 8 Prozent aus Kunststoff gefertigt gewesen. Bei solchen aus Gummi sei knapp ein Zehntel aus alten Förderbändern hergestellt worden, berichtet Schwarz. Letzteres trifft auch auf die Kauenlatschen von Helmut Linke zu.

Die Kauenlatschen bestehen aus einer flachen Sohle mit einem Riemen im vorderen Bereich. Auf der Laufseite der Sohle ist der Riemen in eine Vertiefung eingelassen und wird mit vier Metallnieten an der Sohle befestigt. Die Abbildungen in Schwarz’ Abhandlung zu den aus Gummi und besonders denen aus Förderband hergestellten Pantinen haben große Ähnlichkeit mit Linkes Fußbekleidung.

 

Für die Zeche Friedrich Heinrich liegen zudem Abbildungen aus den 1950er-Jahren vor, die Bergleute mit gleichartigen Kauenlatschen in der Waschkaue zeigen. 1955 wurde ein kleiner Bildband für die Belegschaft zusammengestellt, in der auch Eindrücke aus der Waschkaue, die noch aus der Gründungszeit der Zeche stammte, zu sehen sind. 1958 erschien eine Festschrift anlässlich der erreichten Vollmechanisierung der Kohlengewinnung. Hier sind ebenfalls Bilder aus der Kaue, die inzwischen erweitert und modernisiert worden war, beigefügt. Wieder findet sich ein Paar Kauenlatschen in entsprechender Form.

 

Das Geschenk des ehemaligen Bergmanns an das DBM mag unscheinbar wirken, ist aber ein wichtiges Zeugnis des Bestrebens um mehr Hygiene am Arbeitsplatz des Bergmanns. Dabei hatte Linke eine gute Wahl getroffen, als er damals die aus Gummi bestehenden Pantinen kaufte. Denn, so vermerkt der Hygieniker Schwarz, dieses Material bot wenig Angriffsfläche auf der Fußablagefläche für Krankheitskeime, wohingegen das porenreiche Holz die Ablagerung von Pilzen begünstigte. Die ersten aus Kunststoff gefertigten Kauenlatschen waren zwar sehr hygienisch, aber der Tragekomfort ließ zu wünschen übrig, und es bestand eine höhere Rutschgefahr als mit anderen Fabrikaten.

 

Ob Linke mit seinen Gummilatschen zufrieden war, ist nicht überliefert. Er benutzte sie aber wie die andere Arbeitskleidung bis zum Ende seiner Zeit unter Tage im Jahr 1957.

 

Die interessanten Zeugen aus dem Steinkohlenbergbau der 1950er-Jahren im Ruhrgebiet sind im Februar 2020 genauer unter die Lupe oder besser gesagt unter ein portables Fourier-Transform-Infrarotspektrometer (FTIR) genommen worden. Dies geschah zusammen mit einer detaillierten fotografischen Aufnahme im Zuge des Projektes „Bewahrung gefährdeter Zeitzeugen des Steinkohlenbergbaus in den musealen Sammlungen des DBM/montan.dok und vernetzten Einrichtungen. Bestandsaufnahme, Zerfallsmechanismen und Konservierungsstrategien am Beispiel von polymeren Materialien“. Hinter dem langen Titel verbirgt sich ein wichtiger Ansatz, der ergänzend zu der seit Anfang 2017 im Projekt „montan.dok 21“ verfolgten Optimierung der sammlungsbezogenen Forschungs- und Informationsinfrastruktur des DBM zu sehen ist.

 

Das Projekt soll einen Beitrag zu der Erhaltung der physischen Überlieferung des Erbes des Steinkohlenbergbaus leisten. Eine genaue Analyse des Erhaltungszustandes sowie der Materialzusammensetzung einer repräsentativen Auswahl von Objekten ist Aufgabe des Projektes. Dabei sollen zum einem der konservatorische Bedarf innerhalb des DBM geklärt und zum anderen Angaben zu optimalen Lagerungs- und Präsentationsbedingungen für die Gegenstände ermittelt werden.

 

Auf die Kauenlatschen des Kumpels von Friedrich Heinrich gemünzt: Der Weg ins Museum garantiert zwar zunächst eine gute Aufbewahrung der Objekte, doch ihr weiterer Erhalt für Museumsbesucherinnen und -besucher sowie für die Forschung hängt wie bei vielen anderen Artefakten an konservatorischen Fragen. Nichts ist für die Ewigkeit, aber eine möglichst lange Erhaltung der materiellen Zeugen aus dem Bergbauerbe ist für alle wünschenswert.

 

16. April 2020 (Dr. Maria Schäpers)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030007756001, 030007756002, 030007756003, 030007756004 und 030007756005.

 

Heimsoth, Axel: Unter Tage – über Tage. Die Kleidung der Bergleute, in: DER ANSCHNITT 70, 2018, S. 169-172.

 

Jovović, Thomas: Die Entwicklung der Bergbauzulieferindustrie, in: Farrenkopf, Michael u. a. (Hrsg.): Glück auf! Ruhrgebiet. Der Steinkohlenbergbau nach 1945. Katalog der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 6. Dezember 2009 bis 2. Mai 2010, Bochum 2009 (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 169 = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 21), S. 490-518.

 

Krieg, Till: Bewahrung gefährdeter Zeitzeugen. Kunststoff-Survey im DBM/montan.dok, in: montan.dok-news 5, 2019, Heft 2, S. 3.

 

Moitra, Stefan: Tief im Westen. Ein Jahrhundert Steinkohlenförderung am linken Niederrhein. Von Friedrich Heinrich zum Bergwerk West, Bochum 2012 (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 186 = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 25).

 

Schwarz, Harald: Die Waschkaue, ein Arbeitshygienisches Problem, in: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene 16, 1958, S. 227-351.

 

Steinkohlenbergwerk Friedrich Heinrich AG (Hrsg.): Unser Werk und seine Belegschaft. Steinkohlenbergwerk Friedrich Heinrich AG, Kamp-Lintfort (NDRH), Rheinberg 1955.

 

Steinkohlenbergwerk Friedrich Heinrich AG (Hrsg.): Das Werk und seine Belegschaft. Anlaß für die Herausgabe dieses Buches ist ein für das Werk und seine Belegschaft bedeutsames Ereignis: Die Vollmechanisierung der Kohlengewinnung, Duisburg 1958.