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Ein Streikgedicht von Heinrich Kämpchen zur Praxis des Wagennullens

Sie brachte wohl so manches Fass zum Überlaufen: Die Praxis des Wagennullens wurde im Steinkohlenbergbau von der Mitte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts angewandt, um die Arbeiter zur Förderung möglichst reiner Kohle anzuhalten. In einem Gedicht wandte sich Heinrich Kämpchen (1847-1912), Bergmann und Arbeiterdichter, mit einer eindeutigen Botschaft an die mittlere Führungsebene. Man solle nur mit dem „Nullen“ so weiter machen, man werde dann schon sehen, was man davon habe. Ein Streik lag in der Luft.

Das Wagennullen wurde von den Bergleuten als ungerecht und willkürlich empfunden, weil die Entscheidung ihres Vorgesetzten, des Steigers, die Abbaubedingungen vor Ort häufig außer Acht ließ. Beim Wagennullen entschied dieser nämlich, ob ein mit Kohle gefüllter Förderwagen mit einer zu großen Menge an Bergen (unverwertbares Gestein) versetzt war und dem Lohn zugerechnet werden durfte oder nicht. Wenn das Flöz durch viele Berge unterbrochen wurde, war es den Bergarbeitern schwerlich möglich, den Förderwagen mit reiner Kohle zu beladen. Zudem wurde die Praxis mitunter als Druckmittel eingesetzt, um die Bergarbeiter zu disziplinieren. In manchen Zechen wurde die Bestrafung ausgeweitet, indem für jeden unreinen Wagen mehrere reine wieder gestrichen wurden.

 

Die Belegschaften eines Betriebspunkts, die Kameradschaften, mussten sich im Rahmen des sogenannten Gedingelohns mit dem Steiger über die voraussichtliche Fördermenge einigen und unter Berücksichtigung der vorliegenden Gebirgsverhältnisse die Bezahlung festlegen. Auch dieses Verfahren war für alle Beteiligten undurchsichtig, weil die Bergleute die Schwierigkeiten beim Abbau hervorhoben und die Steiger dagegen argumentierten, um den Lohn zu drücken. Letzteres taten sie nicht nur aus Rücksicht auf die Interessen des Unternehmers, sondern es stand auch mit Prämienzahlungen im Zusammenhang, welche die mittlere Führungsebene in Abhängigkeit von der Förderleistung „ihrer“ Kameradschaften erhielt.

 

Der Status und die Privilegien der Bergleute aus der Zeit eines staatlich geleiteten Bergbaus verschlechterten sich in Folge der Bergrechtsreform (1851-1865) sprunghaft. Eine liberalistische Wirtschaftspolitik und der gesteigerte Kohlenbedarf des Maschinenzeitalters trugen zur Wandlung des Berufsbildes bei. Für die Bergleute wurde der Rückzug des Staats aus seiner Kontrollfunktion auch mit dem Gesetz über den freien Arbeitsvertrag von 1860 spürbar. Aus der Sicht der Arbeiter wurden die Vertragsbedingungen nicht frei ausgehandelt, weil ihnen etwa beim Protest gegen eine Verlängerung der Arbeitszeiten die Kündigung drohte. Gegen dieses Ungleichgewicht zog auch Heinrich Kämpchen in den Arbeitskampf.

 

Im Gedicht „Wie’s kommen wird“ treten die konfliktgeladenen Arbeitsbeziehungen zwischen Steigern und den ihnen in der Betriebshierarchie untergeordneten Bergarbeitern deutlich hervor. Auf eine gütliche Einigung wird keine Hoffnung mehr gesetzt. Im Gegenteil: Die Vorgesetzten werden dazu aufgefordert, wie bisher weiterzumachen und die Demütigung sogar durch strengere Kontrollen noch zu verschärfen. Am Ende der Spirale, das ist für den Dichter unzweifelhaft, wird ein Streik stehen, in dem sich der Zorn der Bergleute entlädt.

 

Das Gedicht wurde vor dem Hintergrund des großen Streiks der Ruhrbergleute von 1889 verfasst, an den in der letzten Zeile erinnert wird. Ende April des Jahres kam es zu den ersten Arbeitsniederlegungen auf der Zeche Präsident in Bochum. Essen, Gelsenkirchen und Herne folgten. Die Bergleute forderten eine Lohnerhöhung und die Wiederherstellung der alten Vorrechte gegenüber den Fabrikarbeitern. Dazu zählte vor allem die Rückkehr zur Achtstundenschicht. Die Arbeitgeber konnten sich allerdings durchsetzen und als einziger Erfolg in Folge des Streiks stand auf Seiten der Bergleute die Gründung des „Alten Verbands“ als organisierter Gewerkschaft. Das Wagennullen wurde erst nach dem zweiten großen Streik im Jahr 1905 per Berggesetz mit der Ausnahme von Geldstrafen in einem Höchstmaß von fünf Mark pro Monat für unreine Kohlenwagen verboten.

 

Der am 23. Mai 1847 in Altendorf bei Essen geborene Bergbaudichter Heinrich Kämpchen stammte aus einer Bergarbeiterfamilie. Hier wird er einiges über den gesellschaftlichen Status und die Rechte der Bergleute vor der Veränderung der Machtverhältnisse zu Gunsten der Unternehmer in Folge der Bergrechtsreform erfahren haben. Den Hintergrund vieler seiner Gedichte bildet der Widerstand gegen diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und die Überzeugung, dass nur ein gemeinsames Vorgehen der Bergleute zum Erfolg führen kann. Seine politischen Gedichte erschienen in der Regel auf der ersten Seite der „Bergarbeiter-Zeitung“ des „Alten Verbandes“.

 

Neben seinem dichterischen Engagement trat Heinrich Kämpchen im Mai 1889 als einer der Streikführer auf. Auch als Delegierter für den Bergarbeiterkongress und Mitglied des Kontrollausschusses des „Alten Verbandes“ setzte er sich für die Belange der Berufsgruppe ein. Nach dem ersten großen Bergarbeiterstreik erhielt der Dichter keine Anstellung im Bergbau mehr. Er gehörte zu den von den Arbeitgebern auf sogenannten schwarzen Listen geführten Bergleuten, die sich im Streik für die Sache der Arbeiter eingesetzt hatten. Bei seiner Beerdigung im März 1912 versammelten sich mehrere tausend Menschen auf dem katholischen Friedhof in Bochum-Linden.

 

Mit seinem Gedicht „Wie’s kommen wird“ versuchte der Schriftsteller, politisch Einfluss zu nehmen. Dabei wandte er sich an seine Kollegen im Bergbau und stellte durch die Beschreibung der Praxis des Wagennullens ein Thema in den Mittelpunkt, das den Bergleuten aus ihrem Arbeitsalltag wohlbekannt war und sie als Interessengemeinschaft gegenüber ihren Vorgesetzten vereinigte. Heute erlaubt es uns, die Perspektive der Arbeiter auf ein betriebliches Disziplinierungsinstrument nachzuvollziehen, an dem sich die Gemüter der Bergleute in einer Situation grundlegender Veränderungen des beruflichen Selbstverständnisses leicht entzündeten.

 

Das Foto von der Pferdeförderung auf der Zeche Prosper stammt aus dieser Zeit. Vielleicht waren die Förderleute mit ihren Steinkohlen gerade auf dem Weg zur Kontrolle durch einen Steiger. Es stammt aus der Fotothek des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) und zeigt neben der Strecke mit kombiniertem Holzstempel- und Stahlbogenausbau einen Bergmann mit Benzin-Sicherheitslampe (links), ein Grubenpferd  mit beladenem Förderwagen und einen weiteren Bergmann an der Weichenstellanlage (rechts).

 

01. August 2018 (Jens Brokfeld, M.A.)

 

 

Wie’s kommen wird

 

Wie lange noch – und wieder bricht

Der Streik mit voller Wucht herein!

Wie lange noch – dann wird die Schicht,

Die längste, schnell zu Ende sein!

 

Ihr aber, die ihr heute trotzt

Auf Bergmanns Langmut und Geduld,

Die ihr von Überhebung strotzt,

Ihr tragt dann selber auch die Schuld.

 

Ja, straft und nullt nur frisch drauflos,

Doch auch des einen seid gewiß:

Es wächst und wächst lawinengroß

Der Ingrimm und die Bitternis.

 

Und wenn die Zornessaat gereift,

Und wenn der Bergmann nicht mehr will,

Ob ihr dann trommelt oder pfeift –

Stehn wieder alle Räder still.

 

Drum straft und nullet nur drauflos

Und drückt den Bergmann immer mehr,

Es wächst und reift im Zeitenschoß

Wie neunundachtzig – wuchtig schwer

 

Bergarbeiterzeitung, 25.07.1903

 


Literatur

Hallenberger, Dirk: Industrie und Heimat. Eine Literaturgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2000.

 

Kämpchen, Heinrich: Seid einig, seid einig, dann sind wir auch frei. Gedichte, Oberhausen 1984.

 

Trischler, Helmuth: Arbeitsbeziehungen im deutschen Bergbau 1848 bis 1933, in: Tenfelde, Klaus/Pierenkemper, Toni (Hrsg.): Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 3: Motor der Industrialisierung. Deutsche Bergbaugeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Münster 2016, S. 377-422.