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Kinder-Paradeuniform aus dem Erzgebirge

Obwohl in vielen Ländern mittlerweile verboten, ist Kinderarbeit nach wie vor ein weltweites Problem. So schätzte die International Labour Organization (ILO) im Jahr 2020, dass ca. 160 Mio. Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren in für sie gefährdenden Tätigkeiten zum Einsatz kommen, darunter im Kleinbergbau, wo sie schwere Lasten tragen oder bei der chemischen Wäsche Erze vom Gestein trennen. Über die Geschichte der Kinderarbeit informieren uns Dokumente, Statistiken und bildliche Überlieferungen, wobei konkrete materielle Spuren dieser Arbeit in Form von Objekten selten sind. Umso mehr lohnt daher der Blick auf eine in den Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) überlieferte Kinder-Paradeuniform aus dem sächsischen Erzbergbau vom Ende des 19. Jahrhunderts. Als textiles Objekt steht sie für die Teilnahme von Kindern an den traditionellen festlichen Umzügen der Bergleute, vor allem aber für Kinder als Teil bergbaubezogener Arbeit.

Die Kinder-Paradeuniform besteht aus einer Uniformjacke und einer Filzkappe sowie als Zubehör einer Tscherpertasche, einem Zimmerlingsbeil sowie einem Paar Kniebügel. Eine früher möglicherweise ebenfalls vorhandene Hose ist nicht überliefert (montan.dok 030002852000). Die Uniformjacke ist aus ungefüttertem schwarzem Leinenstoff genäht und mit einem breiten Umlegekragen sowie an verschiedenen Stellen mit Samtaufschlägen und mit Messingknöpfen versehen. Ihrem Charakter als Kinderuniform entsprechen die mitüberlieferten spielzeughaften Attribute: Das Beil ist aus bemaltem Holz gefertigt und die Kniebügel sind aus schwarzem, mit Pappe hinterlegtem Leinen gefertigt. Hinzu kommt die Tscherpertasche aus Leder mit einer seitlich angebrachten Messer-Attrappe mit Holzgriff ohne Klinge. Uniformjacke samt Zubehör gelangten Anfang der 1990er-Jahre aus Privatbesitz in die Musealen Sammlungen und sind nicht datiert. Doch gibt ein Herstellervermerk auf der Tasche einen Hinweis auf die in Dresden ansässige „Actien-Gesellschaft für Leder-Maschinenriemen- und Militäreffecten-Fabrikation vormals Hch. Thiele“, die von 1889 bis 1900 allgemeine Lederwaren in ihrem Programm anbot. 

 

Sieht man einmal von der Kindergröße der Uniformjacke ab, so unterscheidet sie sich kaum von denjenigen, die seit dem 17. Jahrhundert, in verschiedenen Ausführungen auf Bergparaden getragen, Teil ständischer Repräsentation waren. Dass Kinder überhaupt an solchen Umzügen teilnahmen, ist zwar nicht belegt, dennoch gehörte Kinderarbeit bereits in vorindustrieller Zeit zu einer von Erwachsenen geprägten Arbeitswelt. Im Bergbau wie auch in der Landwirtschaft und im Handwerk trugen sie ganz selbstverständlich zum Familieneinkommen bei. Die Anfang des 19. Jahrhunderts im Montanwesen einsetzende bzw. sich beschleunigende Industrialisierung änderte daran kaum etwas. Im Gegenteil. Trotz zunehmender Mechanisierung im Bergbau stieg der Bedarf nach Kindern als ungelernten und billigen Arbeitskräften, deren Tätigkeit sich kaum von der in vorindustrieller Zeit unterschied. Arbeiteten im Harzer Erzbergbau im 18. Jahrhundert Kinder ab 10 Jahren in Pochwerken zum Zerkleinern von Erzen, so war dies ein Jahrhundert später immer noch der Fall. Eduard Heuchlers Lithographie „Die Scheidebank“ von 1857 zeigt Kinder und Jugendliche, die aufgeschüttetes Erz in Körben transportieren und es an einem langen Tisch sitzend mit einem Pochhammer zerkleinern (montan.dok 030000861024).

 

Heuchlers Darstellung einer sauberen, hellen und geordneten Arbeitsumgebung, in der Kinder unter der Anleitung von Erwachsenen scheinbar spielerisch ihrer Tätigkeit nachgehen, zeigt ein sicher geschöntes Bild damaliger industriell geprägter Kinderarbeit. Denn fast zur gleichen Zeit zeichnete die vom englischen Parlament 1840 eingesetzte „Royal Commission of Inquiry into Children's Employment” ein gänzlich anderes Bild ihrer Arbeitswelt über und unter Tage. Der von der Kommission zwei Jahre später veröffentlichte Bericht zum englischen Bergbau beschreibt Mädchen und Jungen im Alter von fünf bis acht Jahren, die in engen Stollen Wagen ziehen, als „Trapper Boys“ Wettertüren bedienen oder zur Belüftung Ventilatoren drehen. Allerdings gelangte mit der Darstellung solcher Missstände Kinderarbeit letztlich in den Fokus der Öffentlichkeit, was im Hinblick auf eine Regulierung von Arbeitsort, Mindestalter und Arbeitszeiten zu neuen Gesetzen führte. Am Ende des Jahrhunderts lag die Altersgrenze für schwere Tätigkeiten im Bergbau europaweit bei ca. 15 Jahren. In Deutschland war zudem die Beschäftigung von Jugendlichen unter Tage erst ab einem Mindestalter von 16 Jahren erlaubt.

 

Dass Kindern bei diesem späteren Beginn ihres Arbeitslebens eine wenn auch oft nur rudimentäre Schulbildung ermöglicht wurde, war dabei ein durchaus erwünschter Nebeneffekt. Dass sie über ihre Arbeit am Unterricht nicht teilnehmen konnten, beklagte bereits 1794 ein Pfarrer in Clausthal: „Unsere Pochknaben […] werden fast alle im Alter von zehn bis zwölf Jahren aus den unteren Klassen genommen“ (Lommatzsch, S. 74). Doch ein bergbaubezogener Lehrberuf auf der Grundlage von Arbeitsschutzgesetzen und Mindestalter sollte sich erst sehr spät nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzen. In Deutschland gingen Zechenbetriebe nun dazu über, anstelle eines ungeregelten Anlernens auf der jeweiligen Zeche, eine reguläre Ausbildung über mehrere Jahre hinweg anzubieten (montan.dok 070200450000).

 

Doch trotz neuer Regelungen und Gesetze war noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein die schwere Arbeit von Kindern weiterhin üblich. Das zeigen die Fotografien des amerikanischen Dokumentarfotografen Lewis W. Hine (1874-1940) von Kindern auf Kohlezechen in Pennsylvania kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Ganz ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor die Pochjungen bei Heuchler hocken die „Breaker Boys“ vor langen Holzwannen, wo sie die geförderte Kohle händisch vom Gestein trennen. Doch erst das Medium der Fotografie lässt ihre harten Arbeitsbedingungen erahnen. Eine Aufnahme des Ewen Breakers der Kohlensortierung der Pennsylvania Coal Company zeigt die Kinder in einem engen dunklen Raum zusammengepfercht inmitten des allgegenwärtigen Kohlenstaubs, beaufsichtigt von Älteren, die sie zur Arbeit antreiben. Diese Kinder führen in Zeiten der Hochindustrialisierung eine Tätigkeit fort, die bereits im vorindustriellen Bergbau bei der Beschäftigung von Kindern weit verbreitet war und sich über die Jahrhunderte kaum verändert hat. 

 

Angesichts dieser harten Arbeitswirklichkeit von Kindern um 1900 scheint unsere Kinder-Paradeuniform als gänzlich aus der Zeit gefallen. Und doch verweist sie indirekt auf nichts anderes als eben diese Arbeitswelt. Denn deutlicher als jede Arbeitskleidung markiert die Uniform genau den Übergang von Kindern in das Berufsleben und damit ihre Zugehörigkeit zur Arbeitswelt der Erwachsenen. Hierfür steht die Jacke ebenso wie das dazugehörige spielzeugartige Zubehör, das stellvertretend auf die spätere Arbeitsausrüstung verweist. 

 

Die Lithografie „Die Aufnahme“ (montan.dok 030003301001) von Hans Anton Williard (1832-1867) nach Motiven des Malers Karl Ernst Papf (1833-1910) aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich wie eine Illustration dieses Übergangs betrachten. Zu sehen ist in einer Schreibstube ein Junge, den seine Mutter einem älteren Bergmann zur Anstellung im Bergwerk empfiehlt. Ein weiterer jüngerer Bergmann schaut dem Gespräch zu, während im Hintergrund ein anderer Junge mit einem Erwachsenen in der Tür wartet. Wie die beiden erwachsenen Bergleute auf dem Bild, trägt auch der Junge einen einfachen Bergkittel, der ihn im Moment der Anstellung als angehenden Bergmann ausweist. Das Bild erzählt demnach von dieser Aufnahme in den Beruf und zugleich von der jeder lohnabhängigen Tätigkeit zugrunde liegenden Hierarchie. Während der ältere Bergmann als einziger sitzend in seinem Stuhl und mit Bergkittel und Schachthut als Autoritätsperson klar erkennbar ist, zeigt sich das Kind sprachlos und unmündig. Das unter das Bild gesetzte Bibelzitat legt aus christlicher Perspektive die Erwartungen an das künftige Arbeitsleben des Jungen fest: „Bleibe in Gottes Wort, und übe Dich darinnen, und beharre in Deinem Berufe.“

 

Wie sehr Textilien in diesem Sinne Zugehörigkeiten markieren, verdeutlicht eine andere Lithografie Heuchlers, „Der Zechenweg“ (montan.dok 030000861002) von 1857, die inhaltlich als eine Fortsetzung der „Aufnahme“ betrachtet werden kann. Das zuvor in den Bergmannsberuf aufgenommene Kind findet sich nun innerhalb einer Gruppe von vier Bergleuten auf dem Weg zur Arbeit. Alle tragen als einheitliche Arbeitskleidung einen Bergkittel und das Fahrleder, darüber hinaus individuelle Arbeitsausrüstung wie Stiefel, Blendlaterne und einen Stock. Dass zwei in der Gruppe Kinder sind, ist nur an der Körpergröße erkennbar. Das Kind als Arbeitskraft hat sich über seine Kleidung vollständig in die Arbeitswelt der Erwachsenen eingepasst. Aus dieser Perspektive unterscheiden sich Fest- und Alltagskleidung als textile Objekte kaum voneinander.

 

Bleibt zuletzt die Frage nach der Funktion der hier vorgestellten Kinder-Paradeuniform. Warum wurde sie überhaupt hergestellt zu einer Zeit, als in Deutschland eine verschärfte Gesetzgebung gegen die Kinderarbeit eine Teilnahme von Kindern an der Arbeitswelt der Erwachsenen immer mehr in Frage stellte? Wurde diese Uniform überhaupt auf Paraden getragen oder lässt sie sich nicht eher als ein „Spielzeug“ begreifen, dass Kinder an die Welt des Bergbaus gewissermaßen spielend heranführte? Damit wäre allerdings ihre Funktion als indirektes Zeugnis der Kinderarbeit und als ein Zeugnis des Übergangs von der Kindheit in die Berufswelt der Erwachsenen ganz ins Gegenteil verkehrt. Denn es lässt sich kaum ein größerer Gegensatz zwischen dem spielenden und dem im Bergbau und in anderen Tätigkeiten ausgebeuteten Kind denken. Das arbeitende Kind ist von einer spielerischen Erfahrung der Welt meilenweit entfernt. 

 

Dass die Kinder-Paradeuniform solche widersprüchlichen Perspektiven zulässt, macht ihre Besonderheit aus. Trotz ihrer Einordnung in die Geschichte der Kinderarbeit, darauf bezogener Gesetzgebungen und Regulierungen sowie Bildzeugnissen bleibt ihre Mehrdeutigkeit gewahrt. Wer aber nun genau in diesem textilen und heute musealen Objekt Ende des 19. Jahrhunderts steckte, wer sich die Tscherpertasche umgehängt und das Zimmerlingsbeil in die Hand genommen hat, wissen wir bis auf Weiteres nicht. Nur dass es ein Kind war, ist sicher.

 

01. August 2025 (Dr. Stefan Siemer)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum des Deutschen Bergbau-Museums Bochum (montan.dok) 030002852000, 030000861024, 030003301001, 030000861002.

 

Brüggemeier, Franz-Josef: Lebens- und Arbeitswelten von Bergleuten und ihren Familien, in: Geschichte des Deutschen Bergbaus, hrsg. von Klaus Tenfelde, Stefan Berger, Hans-Christoph Seidel, Bd. 3, Münster 2016, S. 194-287.

 

Hine, Lewis H. “Breaker Boys”. Unter: Search results for Hines Breaker Boys, Available Online | Library of Congress (Eingesehen: 02.06.2025).

 

Hine, Lewis H. “A view of Ewen Breaker of the Pa. [Pennsylvania] Coal Co.”. Unter:  https://www.loc.gov/resource/nclc.01127/ (Eingesehen: 02.06.2025).

 

International Labour Organization/Unicef (Hrsg.): Child Labour. Global estimates 2020, Trends and the Road forward. Unter: wcms_797515.pdf (Eingesehen: 15.04.2025).

 

Lommatzsch, Herbert: Vom Lesezettel zur Bergschule. Tendenzen und Praxis der Bildungswege und der Unterrichtsmaßnahmen für die Pochknaben im Erzbergbau des braunschweigisch-lüneburgischen und hannoverschen Harzes zwischen 1650 und 1866, in: Braunschweigisches Jahrbuch 58 (1977), S. 69-101.

 

Quandt, Siegfried (Hrsg.): Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783-1976. Quellen und Anmerkungen, Paderborn 1978.

 

Rahikainen, Marjatta: Centuries of child Labour. European Experiences from the Seventeenth to the Twentieth Century, Aldershot 2004.

 

Online-Portale: montan.dok.de Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=295708; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=303913; https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=295668 und museum-digital. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1837515; https://nat.museum-digital.de/object/1838497; https://nat.museum-digital.de/object/1837494 (Eingesehen: 28.05.2025).