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Bergetappe

Fahrräder aus „Carbon“ haben sich spätestens seit den 2000er-Jahren durchgesetzt. Eine viel längere und abwechslungsreiche Geschichte haben Fahrräder aber im „Karbon“. Passend zur Straßenradsport- und Paracycling-Weltmeisterschaft 2024 in Zürich werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Formen und Funktionen von Fahrrädern im Bergbau.

Im Anschauungsbergwerk des Deutschen Bergbau-Museums Bochum steht ein Objekt, das scheinbar nicht so richtig in die Szenerie hineinpassen will. Es hat keine Mulde für den Transport von Kohle oder anderem Material, es hat kein spitzes Ende, um durch Gestein oder Kohle zu stoßen, und Eisenräder, um auf Schienen zu fahren, hat es auch keine. Das sonderbare Objekt trägt im Unterschied zu fast allen anderen Dingen in den Strecken und Streben nicht einmal eine Inventarnummer. Neben all den sonderbaren und hochspezialisierten Maschinen wirkt das scheinbar gewöhnliche Fahrrad verloren und unwirklich, als ob es jemand nach seiner Schicht dort stehen gelassen hat.

 

In Ermangelung einer Objektdokumentation wurde Willi Fockenberg, Leiter des Fachbereichs Bergbautechnik/Logistik des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, befragt. Er erinnert sich, dass das ungewöhnlich gewöhnliche Fahrrad als eine Art Mitgift zu der Teilschnittmaschine AM 50 vom Kalisalzbergwerk Niedersachsen-Riedel im Jahr 2005 mitgebracht wurde. Dort wurde es auf der 500-m-Sohle von den Schlossern zur Fortbewegung in den ausgedehnten Strecken zwischen den Werkstätten benutzt. Bei näherer Betrachtung erscheint das Fahrrad stark modifiziert worden zu sein. Hierbei wurde nicht, wie im Rennsport, das Augenmerk auf Gewichtseinsparung und Aerodynamik gelegt, sondern auf die Bedingungen unter Tage: Es wurden kleinere Räder angebracht und der Lenker für eine aufrechtere Fahrposition ausgetauscht. Die Aufschrift auf dem Blech im Rahmendreieck ist nicht mehr ganz lesbar, es handelt sich aber vermutlich um eine Tafel, die das Fahrrad als das Eigentum eines Hans Schwarz auszeichnet. Eine vermutete Verbesserung der Aerodynamik durch das Blech ließe sich nur im Windkanal verifizieren.

 

Die Nutzung von Fahrrädern im Untertagebetrieb war auch im Steinkohlenbergbau weit verbreitet. In den allermeisten Fällen wurden so genannte Grubenfahrräder verwendet. Bedingt durch das Vorhandensein einer Schieneninfrastruktur in den meisten Haupt- und Nebenstrecken waren die meisten Grubenräder als so genannte Schienenfahrräder konzipiert. Der geringe Reibungskoeffizient zwischen Schiene und Reifen war ein klarer Vorteil beim Rennen im flachen Terrain, jedoch wurde durch die aufrechte Sitzposition sämtliches aerodynamisches Potential zunichtegemacht. Das hohe Gewicht wurde schon früh als ein Wettbewerbsnachteil erkannt, so dass die Maschinenfabrik Scharf GmbH neben Stahlgrubenrädern den „Grubenflitzer“ als leichte Aluminiumausführung mit nur 30 kg Gewicht anbot. Ganz wie im Radsport und Paracycling führten unterschiedliche Anforderungen zur Entwicklung passender Konstruktionen. Speziell für die Streckenauffahrung wurde ein schweres Modell mit Platz für bis zu fünf Bergleuten angeboten. Hier wurde die Kraft von zwei nebeneinandersitzenden „Radfahrern“ für den Vortrieb genutzt, die drei auf der Bank konnten den Fahrtwind genießen und renntaktische Anweisungen geben. Für den Einsatz als schnelles Verkehrsmittel für Aufsichtspersonen, Schießmeister und spezialisierte Handwerker reichten ein- bzw. zweisitzige Ausführungen in Tandembauweise. Entgegen der naheliegenden Vermutung ging es bei dieser Konstruktion nicht vorrangig um die Verbesserung der Windschnittigkeit. Prinzipiell teilten alle Grubenräder einen Nachteil, der sie für den Renneinsatz disqualifizierte: Durch die Schienenbindung gestalteten sich Überholmanöver als recht schwierig.

 

Neben den klassischen Grubenrädern ist eine Sonderform der Fortbewegung unter Tage in den Beständen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum überliefert. Es handelt sich dabei um eine Art Tretroller für den Schieneneinsatz. Mangels eines Pedalantriebs oder eines Sattels fällt die Bezeichnung als „Schienenfahrrad“ sehr großzügig aus, erfüllte diese Form doch gewiss auch die Funktion des Transports. Der Bergmann auf dem Bild transportiert laut Bildunterschrift zwei Kästen mit Sprengstoff.

 

Außerhalb des Grubenbetriebs hatten Fahrräder weitere essenzielle Funktionen im Leben der Bergleute. Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschafften Fahrräder ihren Besitzern einen nicht zu unterschätzenden Zuwachs an Mobilität. Bergleute konnten auf ihren Drahteseln schneller zur Arbeit kommen. Das Radfahren war eine kostengünstige Alternative zum öffentlichen Nahverkehr, die zusätzlich eine Unabhängigkeit von Fahrplänen mit sich brachte und so die nötige Flexibilität im Schichtbetrieb sicherte. Die eingesparte Zeit konnte sowohl für Freizeitaktivitäten als auch für andere Tätigkeiten genutzt werden. Wie weit das Fahrrad als Transportmittel für Bergleute über Tage verbreitet war, erkennt man an Dimensionierung und Nutzung der Fahrradabstellräume auf den Zechen. In einem Entwurf von 1939 für die Sozial- und Verwaltungseinrichtungen der Zeche Nordstern plante die Architektengemeinschaft Fritz Schupp/Martin Kremmer einen Fahrradkeller mit Platz für 1100 Fahrräder. Eine Aufnahme des Industriefotografen Josef Stoffels zeigt die Ausmaße des Fahrradschuppens auf der Zeche Franz Haniel in den 1950er-Jahren. Diese Abstellmöglichkeiten wurden gut und gerne genutzt, wie man auf dem Bild eines gefüllten Fahrradraumes der Zeche Erin aus dem Jahr 1952 sieht.

 

Im Ruhrgebiet sucht man vergeblich nach weltbekannten Namen, die die Waden erzittern lassen, wie Alpe d’Huez, Col du Tourmalet oder Sa Calobra. Die Menschen hier haben sich jedoch zu Bergspezialisten einer ganz anderen Art entwickelt. Und auch nach dem Ende des aktiven Steinkohlenbergbaus in Deutschland beeinflusst das Fahrrad das Bild des Ruhrgebiets. Immer mehr ehemalige Bahnstrecken werden zu Fahrradtrassen ausgebaut und ermöglichen so eine touristische und zeitgleich eine verkehrsinfrastrukturelle Erschließung der Region.

 

Das Montanhistorische Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Leibniz-Forschungsmuseum für Georessourcen sammelt, bewahrt und beforscht das kulturelle Erbe des Bergbaus in Deutschland. Hierzu gehören neben den vorgestellten Grubenrädern sowohl Überreste als auch Traditionen des Alltäglichen. Durch Erschließungs- und Digitalisierungsprojekte werden die weiter wachsenden Bestände an Fotografien, Archivalien und musealen Objekten der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Zugriff auf eine so große Bandbreite an Überlieferungen ermöglicht ein produktives Erforschen des Bergbauerbes in Deutschland.

 

01. September 2024 (Rodion Lischnewski)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) FP 2127/2, 11/8911, 47/541 und 223/1024.

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Fotothek 023400275000, 023600962000 und 024900296000.

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Museale Sammlungen 030005820001 und 030032077008.

 

Chmielewska, Marta/Otto, Marius: Revitalisation of spoil tips and socio-economic polarisation – a case study of Ruhr area (Germany), in: Environmental & Socio-economic Studies 2, 2014, S. 45-56.

 

Kroker, Evelyn: Der Arbeitsplatz des Bergmanns, Bd. 2: Der Weg zur Vollmechanisierung, Bochum 1986.

 

Müller, Siegfried: Das Anschauungsbergwerk, in: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum Bochum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bd. 2, Bochum 2005, S. 513-586.