Kunst, Kultur und Kontexte – Freizeitkunst als Sachzeugen der ‚neuen Kulturbewegung‘ im Ruhrgebiet der 1950er-Jahre
Mit 49,5 x 49,5 cm und 3,85 kg ist das Album mit dem grauen Kalikoeinband eines der voluminöseren und gewichtigeren Grafikwerke in den Musealen Sammlungen des montan.dok. Urheber der überwiegend postkartengroßen, handsignierten Radierungen ist Friedrich Zablocki, über dessen Leben wenig bekannt ist. Aus der Sammlungsdokumentation geht zumindest hervor, dass er im Ruhrgebiet lebte und im Laufe seines Lebens vermutlich auf der Zeche Heinrich-Robert (Hamm), auf jeden Fall aber auf dem Bergwerk Emscher-Lippe (Datteln) als Bergmann tätig war. Seine auf dunklen Fotokarton geklebten Grafiken entstanden zwischen 1947 und 1951. Deren ikonografische Klaviatur lässt den Schluss zu, dass Zablocki ein sensibler und vielseitig interessierter Beobachter gewesen sein muss. Neben Ortschaften und Industrielandschaften wartet der Künstler mit Motiven von Schlössern, Wind- und Wassermühlen, weiten Wiesen und Flussläufen zu unterschiedlichen Jahreszeiten auf. Tierporträts und unbeschwert spielende Kinder stehen Menschen in prekären Lebenssituationen gegenüber. Der Arbeitswelt, vertreten durch Landarbeiter, Schiffer und Bergleute, setzt er Freizeitvergnügen und Feierabendaktivitäten entgegen. Wenngleich Zablocki die Zechen Heinrich-Robert und Emscher-Lippe verewigte und den Bergleuten zudem drei Genredarstellungen widmete, sind die Themen „Bergbau“ und „Bergmann“ keineswegs die bestimmenden Sujets seiner künstlerischen Arbeit. Vielmehr dominiert eine vorindustrielle Idylle, die weder einen durch den Zweiten Weltkrieg noch den Bergbau zerstörten Landstrich auch nur im Ansatz erkennen lässt. Auch bei den Industriedarstellungen lenkt Zablocki beispielsweise durch die Betonung von architektonischen Elementen oder dominant ins Bild gesetzte Garben von der Bergbauindustrie – mit all ihren belastenden Facetten etwa von Schmutz und Lärm – ab. Mit welchem Recht beansprucht dieses Album also wertvolle Depotfläche in einem Bergbaumuseum?
Mit Parametern der Gegenwart lässt sich diese Frage nicht beantworten. Ein historisierender Blick auf die Provenienz hilft allerdings weiter: Bergassessor Friedrich Steiner, Direktor der Gewerkschaft Emscher-Lippe (Datteln), hatte das Album der Vereinigung der Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau e. V. (VFKK) 1952 geschenkt, die es wiederum dem Museum überließ. Die Vereinigung war als Förderverein des Bergbau-Museums 1947 gegründet worden. Eines ihrer Ziele war es, die nach dem Krieg angeworbenen Neubergleute durch eine gemeinsame „kulturelle Identität“ (Kift, Zwischen „eingegliedert werden“, S. 135) an die Bergbaubranche zu binden. Gefördert wurden in Kooperation mit den Zechen nicht nur das Malen, Zeichnen und Bildhauen, sondern auch das Singen, Dichten und Schauspielen. Die kreative Auseinandersetzung mit dem Bergbau sollte dabei helfen, die „Schönheit der eigenen Industriewelt“ (Große Perdekamp, Nachdenken zur Ausstellung, S. 3) zu entdecken. Gleichzeitig unterstützten die schönen Künste einen pädagogischen Zweck, indem sie der als problematisch erlebten „Vergnügungsindustrie“ der Großstädte etwas ‚Sinnvolles‘ entgegensetzten (Schön, Den Pinsel zur Hand!, S. 3).
1947 hatte es auf der Zeche Unna-Königsborn eine erste Kunstausstellung von Werken gegeben, die von Bergleuten angefertigt worden waren. Bis in die 1960er-Jahre organisierten Zechen mit Unterstützung der VFKK dieses Format regelmäßig. Gleichzeitig entstanden Arbeitskreise, in denen kunstinteressierte Bergleute von ausgebildeten Künstlern geschult wurden. Das Werk Friedrich Zablockis gehört in diesen Kontext und ist ein Paradebeispiel für die erfolgreiche Umsetzung des angestrebten Programms. Dieses war bei weitem nicht so demokratisch wie es zunächst erscheinen mag. Die schriftlichen Überlieferungen offenbaren nämlich, dass hinter den Kulissen eine von der VFKK beauftragte Jury für die erste Ausstellung im Jahr 1949 „vom Guten das Beste“ auswählte (montan.dok/BBA 97/unverzeichnete Akte „VFKK-Mitgliederversammlungen 1947-1956“). Maßstab dafür war der konservative Kunstgeschmack des VFKK-Vorstands. Insbesondere der Vorstandsvorsitzende Dr.-Ing. Heinrich Winkelmann, zugleich Museumsdirektor des Bergbau-Museums, hatte für die Formenexperimente, wie sie für die Kunst der 1950er-Jahre erwartet werden dürfen, wenig übrig. Dass Zablocki, dessen Stil sehr an Werke Hermann Kätelhöns erinnert, mit verklärenden Industriedarstellungen, idyllischen Landschaften und dem Realismus verpflichteten Genreszenen begeisterte und seine Werke in den Musealen Sammlungen verewigt sind, fügt sich also stimmig in das Bild.
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die VFKK über kulturelle Freizeitprogramme versuchte, fachfremden Arbeitskräften das Ankommen im Ruhrgebiet zu erleichtern. Gleichzeitig zeigt allein die eingehendere Auseinandersetzung mit den Kunstausstellungen, dass die Vereinigung über Themensetzung und favorisierte Kunststile normierend in die Kunstszene eingriff und Kunst als sozialintegratives Instrument auch nutzte, um gegen gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und die Moderne in der Kunst vorzugehen. Inwiefern die bis dato tendenziell affirmative Geschichtsschreibung zur Rolle der VFKK in den 1950er-Jahren einer kritischen Prüfung standhält und wie die Bergleute die Kulturprogramme wahrnahmen, sind Fragen, die es noch zu klären gilt.
01. Februar 2024 (Dr. Anna-Magdalena Heide)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030032054000.
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 97/unverzeichnete Akte „Mitgliederversammlung 1947-1956“, 112/788, 112/805.
Bergmann, Hans: Der Bergmann als Kunstschüler, in: DER ANSCHNITT. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 2, 1950, H. 4, S. 5-7.
Große Perdekamp, Franz: Nachdenken zur Ausstellung „Bergleute malen, zeichnen, modellieren“, in: DER ANSCHNITT. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 2, 1950, H. 1, S. 2-6.
Heide, Anna-Magdalena: „Man kann Bergleute nicht grotesk schnitzen“. Bergmännische Darstellungen in der Kunstsammlung des Bochumer Bergbau-Museums (1928–1966), Berlin/Boston 2023 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 252; = Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums, Nr. 45).
Kift, Dagmar: Mitgestalten – Wandel und Kultur im Ruhrgebiet zwischen Nachkriegszeit und Kohlenkrise, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, 2008, H. 40, S. 127-139.
Kift, Dagmar: Zwischen „eingegliedert werden“ und „sich angenommen fühlen“. Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen in vergleichender Perspektive, in: Krauss, Marita (Hrsg.): Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945, Göttingen 2008, S. 120-147.
Schön, G. (?): Den Pinsel zur Hand! Über den Sinn und Zweck der Laienkunst, in: DER ANSCHNITT. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 4, 1952, H. 2, S. 3-5.