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Ein Markscheide-Instrument ohne Namen?

1935 wird dem damaligen Bergbau-Museum Bochum ein mysteriöses Vermessungsobjekt aus dem 16. Jahrhundert geschenkt, hergestellt von Hans Georg Hertel in Braunschweig. Das historische Instrument vereint bereits viele Bestandteile des erst über 100 Jahre später entwickelten Theodoliten in sich. Hersteller und Instrument sind über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten.

Eindeutig lässt sich das Instrument (montan.dok 030015043001) dem bergmännischen Vermessungswesen zuordnen, dem so genannten Markscheidewesen. Als eines von mindestens 400 solcher Objekte soll es zukünftig nicht nur im Museum und real in den Sammlungen, sondern auch in der Onlinedatenbank des montan.dok auf den Plattformen, museum-digital und Deutsche Digitale Bibliothek online zugänglich sein. Deshalb wird es gerade im Rahmen des Projekts „Digitale Infrastrukturen im Deutschen Bergbau-Museum Bochum und virtuelle Zugänglichkeit zum Bergbauerbe“ aus seinem Dornröschenschlaf geweckt. Bis vor kurzem lag es im Depot der Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok).

 

Viele dieser Markscheideinstrumente haben klingende Namen, wie Themi und Aristo oder Magnetkollimator und Repetitionstheodolit. In den Akten trägt das erwähnte Objekt dagegen den Titel „Bussole mit Zulegeplatte, Diopterlineal und Gradbogen“. Das sind seine funktionalen Bestandteile. Die Bussole, ein auf einem Gerät angebrachter Kompass, ist mithilfe einer so genannten Zulegeplatte auf einem Holzbrett fixiert. Daran seitlich montiert ist ein kippbares Lineal mit Zielvorrichtung, Diopter genannt, und ein Gradbogen mit einer 180° Teilung (zweimal 90°). Der Zweck ist die Vermessung horizontaler und vertikaler Winkel und die Ermittlung des magnetischen Nordens. All diese Teile sind grundlegende Bestandteile eines Theodoliten als dem Standard-Vermessungsinstrument des 19. und 20. Jahrhunderts. Beispielhaft für diese weitere Entwicklungsstufe ist der älteste Theodolit der Musealen Sammlung von 1823 (montan.dok 030015032001), der genau in der Übergangszeit von mehreren zu einem Einzelinstrument konstruiert wurde. Um als Theodolit bezeichnet zu werden, müsste sich bei unserem Objekt anstelle des Diopters allerdings ein Fernrohr befinden. Ein eindeutiger Name fehlt also.

 

Ungewöhnlich ist sein hohes Alter im Vergleich zum Großteil der weiteren Vermessungsinstrumente in den Musealen Sammlungen, die in das 19. bis 20. Jahrhundert datiert werden können. Aus dem 17. Jahrhundert soll das hier vorgestellte Objekt stammen, zumindest was seine originalen Teile betrifft. Denn die Werkstätten des Museums ersetzten das fehlende Lot und die Schrauben am Gradbogen und fertigten einen Plexiglassockel zur Aufstellung in der Dauerausstellung an. Ein größenmäßig passender Kompass aus dem 19. Jahrhundert musste zudem besorgt werden, da der zugehörige auf der Fahrt von Berlin nach Bochum 1935 entwendet wurde.

 

Vor seiner Zeit in Bochum wurde das Instrument an der Technischen Hochschule Berlin, Abteilung Bergbau zu Lehrzwecken verwendet. Es war, wie einige andere, veraltet und der Platz wurde für moderne Geräte benötigt. Über Kontakte zu den Professoren erfuhr der Museumsdirektor Dr.-Ing. Heinrich Winkelmann davon und sorgte dafür, dass die historischen Objekte dem Bergbau-Museum Bochum geschenkt wurden, die Korrespondenz dazu findet sich heute im Bergbau-Archiv Bochum (vgl. montan.dok/BBA 112/1784). Nach Berlin war das Objekt bereits 1891 gelangt, als Teil des Nachlasses eines Markscheiders aus Zaborze, im heutigen Polen. Irgendwann in diesem Zeitraum wurde das Holzbrett gegen ein neues ausgetauscht. Original sind noch das Lineal mit Diopter und der Gradbogen.

 

Als das Objekt 1935 in Bochum ankam, begannen die Museumsangstellten mit der Suche nach Informationen in der Fachliteratur. Die Recherchen ergaben, dass sich Anfang des 19. Jahrhunderts in der Markscheidekunst multifunktionale Instrumente noch nicht gegenüber der Nutzung einzelner Bestandteile durchgesetzt hatten. Das bemängelte Johann Gotthelf Studer 1811 in seiner Aufzählung bestehender Zeichen- und Markscheideinstrumente, in der kein vergleichbares Multifunktionsgerät aufgeführt wurde. Trotz potenziellem Nachteil für den Bergbau scheiterte deren Verbreitung an der Kostspieligkeit. Ein handgefertigtes, zuverlässiges und vor allem multifunktionales Instrument wurde erst durch die Maschinenfabrikation der Industrialisierung bezahlbar.

 

Schon in der Geometria Subterranea erläuterte Nicolaus Voigteln 1714 einzelne Instrumente seiner Zeit, darunter allerdings keines, das mehrere vereint. Da unser namenloses Objekt zu Voigtels Lebzeiten gefertigt und genutzt wurde, scheint es dem Autor jedoch nicht bekannt gewesen zu sein oder wurde bewusst von ihm ausgelassen.

 

Den wichtigsten Hinweis über die Herkunft des Instruments liefert der kunstvoll gravierte Gradbogen. Er enthält die Unterschrift seines Entwicklers: „Hans Georg Herttel Inventor“. Hans Georg Hertel (geb. 1626) war Erfinder und Instrumentenbauer aus Augsburg, tätig in Braunschweig und Wolfenbüttel. Von dem von ihm verfassten und 1675 erschienenen Buch „Von Augspurg New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz“ existieren heute nur noch 5 Exemplare, eines ist online zugänglich. Das Werk diente der Käuferwerbung für das Instrument, dem er selbst keinen Namen gab. Der Autor und Erfinder bezeichnete es nur als „Haupt-Instrument“ oder „Mathematisches Instrument“ und bewarb ausführlich dessen Nutzen für unterschiedliche Anwendungsgebiete, darunter den Bergbau.

 

Die Epoche, in der Hertel wirkte, das 17. Jahrhundert, wird als das Zeitalter der „wissenschaftlichen Revolution“ bezeichnet. Messgenauigkeit avancierte zu einem Ideal. Das hatte Einfluss auf diverse Berufsbilder, wie den des Markscheiders, und erforderte verbesserte Techniken und Werkzeuge. Doch im Bereich des Vermessungswesens war Geheimhaltung seit Jahrhunderten oberstes Gebot, Erfahrungen und Anleitungen wurde vererbt oder weitergegeben. Die damalige Form der angewandten Mathematik war nur Eingeweihten verständlich, ein Austausch zur Weiterentwicklung undenkbar.

 

Auch Hertel, der keine akademische Bildung besaß, beschrieb seine Erfindung nicht im Detail. Die von ihm angefertigten Kupferstiche veranschaulichten die Anwendung, ohne den Aufbau erkenntlich zu machen, zu groß war schon damals die Angst vor Ideendiebstahl. Dadurch wurde eine mögliche Verbreitung und Weiterentwicklung erschwert. In einem der Gedichte, die Hertel auf sich und das Instrument schreiben ließ, ist sich dessen Autor sicher, dass der Ruf von Erfinder und Erfindung selbst dann nicht verschwinden werde, „wann nemlich diese Welt mit allem Mammons Lauffen zu Grund und Aschen fält“. Eine Prophezeiung, die offensichtlich nicht eingetroffen ist.

 

Zwischen den Jahren 1664 und 1674 verkaufte Hertel laut Käuferliste, die sogar den dänischen König enthält, 43 Instrumente, von denen drei heute erhalten sind. Das Absatzgebiet blieb beschränkt auf Norddeutschland und die nordischen Nachbarländer. Es ist davon auszugehen, dass sein Buch und seine Erfindung selbst in Fachkreisen kaum über diese Grenzen hinausgelangt sind. Sie nahmen keinen Einfluss auf die Entwicklung von Vermessungsinstrumenten und gerieten in Vergessenheit.

 

Handelte es sich zwar lediglich um eine Kombination bestehender Gerätschaften, war das Instrument trotzdem seiner Zeit voraus. Es ist eine frühe Form des erst über 100 Jahre später erfundenen und noch später etablierten Theodoliten und damit ein herausragendes Objekt der Musealen Sammlungen im montan.dok.

 

Was nun den Namen des Instruments angeht, „Daß man recht billig nu das Hertelsch heißt und nent“, wie Conrad von Hövelen es in Hertels Buch dichtete, wird weder diese Bezeichnung noch das „Haupt-Instrument“ seiner Bedeutung und Wertigkeit im Rahmen der Entwicklungsgeschichte gerecht. Zur Auffindbarkeit jenseits einer historischen Wertung im WorldWideWeb erhält es schließlich von den Projektmitarbeitenden im montan.dok den um seinen Erfinder ergänzten pragmatischen und zugleich präzisen Titel „Peilkompass auf Zulegeplatte mit Gradbogen von Hans Georg Hertel“.

 

01. Juni 2023 (Jessica Hornung, M.A.)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 112/1711, 112/1784, 112/1785

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030015043001

 

Brathuhn, Otto: Lehrbuch der praktischen Markscheidekunst unter Berücksichtigung des Wichtigsten aus der allgemeinen Vermessungskunde, Leipzig 1902.

 

Hertel, Hans Georg: Von Augspurg New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz, Braunschweig 1675.

 

Kirnbauer, Franz: Die Entwicklung des Markscheidewesens im Lande Österreich, Wien 1940 (= Blätter für Technikgeschichte, Bd. 7).

 

Mintrop, Ludger: Einführung in die Markscheidekunde mit besonderer Berücksichtigung des Steinkohlenbergbaus, Berlin [1916] 1920.

 

Roßbach, Nikola: Hertel, Hans Georg: New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz, in: Roßbach, Nikola/Stäcker, Thomas (Hrsg.): Welt und Wissen auf der Bühne. Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit. Repertorium, Wolfenbüttel 2011, online abrufbar unter http://diglib.hab.de/content.php?dir=edoc/ed000030&distype=optional&xml=tei-introduction.xml&xsl=http://diglib.hab.de/rules/styles/projekte/theatra/tei-introduction2.xsl&metsID=edoc_ed000030_introduction (Eingesehen 27.04.2023)

 

Studer, Johann Gotthelf: Beschreibung der verschiedenen Zeichnen- und vorzüglich beim Bergbau nöthigen Vermessungs-Instrumente, Dresden 1811, online abrufbar unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10806729?page=7 (Eingesehen: 27.04.2023).

 

Voigteln, Nicolaus: Vermehrte Geometria Subterranea, Oder Markscheide-Kunst, Eisleben 1714, online abrufbar unter: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb11199853?page=7 (Eingesehen: 27.04.2023).

 

Wilski, Paul: Lehrbuch der Markscheidekunde. Erster Teil, Berlin 1929.