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Der Boxhandschuh der Fraueninitiative Sophia-Jacoba

Bergbau gilt als Männersache. Das scheint für die Arbeit unter Tage genauso zuzutreffen wie für die Protestgeschichte des Strukturwandels. Schaut man allerdings genauer hin, sieht es meist anders aus. Frauen waren durch die drohenden Zechenschließungen im Steinkohlenbergbau genauso betroffen wie ihre Männer und engagierten sich häufig mit großer Sichtbarkeit für den Erhalt ihrer lokalen Bergwerke. Ein Beispiel dafür ist die Fraueninitiative Sophia-Jacoba.

Das Ende des aktiven Steinkohlenbergbaus in der Bundesrepublik im Dezember 2018 bezeichnet nicht nur den Schlusspunkt eines jahrzehntelangen Schrumpfungsprozesses. Vielmehr darf es in mancherlei Hinsicht durchaus als sozialpolitischer Erfolg gewertet werden, dass seit der 1968 erfolgten Gründung der damaligen Ruhrkohle AG als Kriseninstrument unter der Maxime der Sozialverträglichkeit Massenentlassungen und plötzliche Arbeitslosigkeit vermieden werden konnten.

 

Der hier vorgestellte Fund des Monats, ein Boxhandschuh (montan.dok 037000872001), veranschaulicht indes in besonderer Weise, dass Sozialverträglichkeit immer wieder neu erkämpft und verhandelt werden musste – und dass die Ankündigung oder Drohung von Stilllegungen von durchaus tiefgreifenden Konflikten begleitet sein konnten. Die Beschreibung des Objekts mag sich lapidar anhören: „Boxhandschuh aus Leder, Außenseite grau, Innenseite blau; an der Innenseite mit einem weißen Schnürband versehen.“, so die Skizzierung in der Objektdokumentation des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum. Doch Bedeutung erhält das Objekt durch eine Aufschrift auf der Vorderseite: „Zum 1-jährigen Bestehen von der Fraueninitiative Klöckner-Becorit aus Castrop-Rauxel“.

 

Die Geschichte des Objekts führt uns aber zunächst nicht nach Castrop-Rauxel, sondern Ende der 1980er-Jahre ins Aachener Revier, genauer gesagt nach Hückelhoven im Kreis Heinsberg, zur Zeche Sophia-Jacoba. Wie die übrigen bundesdeutschen Reviere hatte es das Bergwerk schwer, auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Anders als im Ruhrgebiet gab es jedoch keinen Plan zur allmählichen Produktionsanpassung. Vielmehr erwog der Betreiber, ein niederländischer Investmentfonds, die Zeche wenn möglich zu veräußern oder aber ganz stillzulegen. Rund 4000 Arbeitsplätze waren unmittelbar bedroht. Schon zu diesem Zeitpunkt formierte sich eine starke lokale Protestbewegung, um auch überregional Öffentlichkeit und Politik für die Situation in Hückelhoven zu sensibilisieren. 1990 wurde Sophia-Jacoba zwar durch die Ruhrkohle AG übernommen, doch die Strukturprobleme blieben. Bereits 1991 war wiederum von Schließung die Rede, da ohne zusätzliche Subventionen ein neues, für den Weiterbetrieb notwendiges Grubenfeld nicht erschlossen werden konnte.

 

Die seit 1988 laufende Serie von Protestaktionen erreichte einen Höhepunkt, als 800 Beschäftigte ihre Grube im Oktober und November 1991 für insgesamt 12 Tage unter Tage besetzt hielten. Ergebnis der parallel stattfindenden Verhandlungen war eine Kompromisslösung: Die Schachtanlage sollte bis 1997 in Förderung bleiben. Für die Protestierenden war das zumindest ein Teilerfolg. Massenentlassungen wurden vermieden und die Bergleute erhielten die Perspektive, in den Ruhrbergbau bzw. in die nahegelegene Braunkohle zu wechseln oder an umfänglichen Umschulungsmaßnahmen teilzunehmen.

 

Bei den Protesten wie auch bei den Verhandlungen auf politischer Ebene brachte sich eine Gruppe besonders ein: die „Fraueninitiative Sophia-Jacoba“. 1988 zunächst als „Initiative betroffener Frauen und deren Familien“ gegründet, waren es vor allem Ehefrauen, teils auch Mütter der auf Sophia-Jacoba Beschäftigten, die sich hier organisierten und eine beträchtliche Medienaufmerksamkeit auf sich zogen. Monat für Monat initiierten sie in Kooperation mit dem Betriebsrat und anderen lokal aktiven Gruppen eine Fülle von Protestformen, von Unterschriftensammlungen, Mahnwachen und Demonstrationen bis hin zu spektakulären Aktionen, die durchaus auch körperliche und juristische Risiken bargen: So ketteten sich im Mai 1989 Mitglieder der Fraueninitiative vor dem Bundesministerium für Wirtschaft in Bonn an; ein Jahr später versperrten sie durch eine Sitzblockade die Zufahrt zum Bundeskanzleramt und mussten von Angehörigen des Bundesgrenzschutzes weggetragen werden. Vom Spiegel bis zum Echo der Frau berichteten die Medien. Der WDR produzierte unter dem Titel „Die Frauen von Hückelhoven“ einen Dokumentarfilm. Weniger Medienresonanz gab es für die aktive Gremienarbeit im Anschluss an den Stilllegungsbeschluss, als sich die Frauen auf lokal- und regionalpolitischer Ebene in die Ausgestaltung des Strukturwandels einbrachten, nicht zuletzt auch, was die Schaffung und Stärkung von Arbeitsplätzen für weibliche Beschäftigte im Kreis Heinsberg anging.

 

Die Protestgeschichte rund um Sophia-Jacoba und die Aktivitäten der Fraueninitiative werfen ein breites Schlaglicht auf die 1980er- und 1990er-Jahre als Dekaden des Strukturwandels in der Bundesrepublik, gerade auch mit Blick auf die heute oft übersehene Rolle, die Frauen dabei eingenommen haben. Akteurinnen aus Hückelhoven vernetzten sich mit zahlreichen anderen Fraueninitiativen in der ganzen Bundesrepublik. Darunter waren teils als Angehörige, teils selbst von Arbeitsplatzverlust bedrohte Arbeiterinnen, die sich Gehör verschafften – Initiativen etwa um die Stahlstandorte in Rheinhausen und Hattingen ebenso wie Gruppen mit Bergbaubezug im Ruhrgebiet, bis hin zu ähnlichen Gruppen in den neuen Bundesländern. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist über diese Initiativen heute wenig bekannt. Das trifft auch auf jene beim Bergbauzulieferer Klöckner-Becorit in Castrop-Rauxel zu, die den Frauen von Sophia Jacoba den Boxhandschuh zu ihrem Einjährigen überreichte.

 

Umso mehr ist es ein glücklicher Umstand, dass sich neben der Überlieferung der betrieblichen Akten der Zeche Sophia-Jacoba (montan.dok/BBA 175: Sophia-Jacoba GmbH, Hückelhoven) ein eigener Bestand „Fraueninitiative Sophia-Jacoba“ (montan.dok/BBA 341) im montan.dok im Bereich Bergbau-Archiv Bochum mit umfangreichem Schrift- und Bildmaterial befindet und so der weiteren Forschung zur Verfügung steht, ergänzt durch Objekte wie den Handschuh, die in die Musealen Sammlungen des montan.dok aufgenommen worden sind. Im gemeinsam mit der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets durchgeführten Oral History-Projekt „Menschen im Bergbau“ wurde 2018 Jutta Schwinkendorf, die frühere Sprecherin der Fraueninitiative, interviewt. Sie übergab im Anschluss die von ihr gesammelten Materialien an das montan.dok. Damit erhalten Interessierte einen wichtigen Einblick in die Geschichte des Strukturwandels und der industriellen Transformation – und nicht zuletzt in die Erfahrungsperspektiven von Frauen in diesem Zusammenhang.

 

01. März 2023 (Dr. Stefan Moitra)


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 037000872001

 

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 175 und 341

 

Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Bochum, Sammlung Lebensgeschichtliche Interviews: Interview mit Jutta Schwinkendorf vom 6.2.2018, LINT 79

 

Farrenkopf, Michael/Przigoda, Stefan: Schwarzes Silber. Die Geschichte des Steinkohlenbergwerks Sophia-Jacoba, hrsg. von der Sophia-Jacoba GmbH, Essen 1997.

 

Moitra, Stefan: 17. Oktober 1991. Untertagestreik, in: Langebach, Martin (Hrsg.): Protest. Deutschland 1949-2020. Bundeszentrale für politische Bildung: Zeitbilder, Bonn 2021, S. 320-321.

 

Interview mit Jutta Schwinkendorf online auf der Projektwebsite Menschen im Bergbau. Unter: https://menschen-im-bergbau.de/menschen/schwinkendorf/ (Eingesehen: 31.01.2023).

 

Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=293390 (Eingesehen: 31.01.2023) sowie museum-digital.de. Unter: https://nat.museum-digital.de/object/1222083 (Eingesehen: 31.01.2023).