Direkt zum Inhalt

Wilhelm Knabe – eine deutsch-deutsche Umweltgeschichte

Wilhelm Knabe (1923-2021) war eine der bedeutenden Persönlichkeit der deutsch-deutschen Umweltgeschichte. Als Mitbegründer der Partei Die Grünen und späterer Bundestagsabgeordneter wirkte er vielfältig im In- und Ausland. Weniger bekannt ist hingegen seine Vergangenheit als Rekultivierungsexperte in der DDR. Symbolhaft steht hierfür sein Koffer, den er während seiner Flucht zum Schmuggeln seiner Unterlagen nutzte. Auf diese Weise war es ihm möglich, an seine Karriere im Osten anzuknüpfen und zu einem internationalen Fachmann für die Wiederurbarmachung im Nachbergbau zu werden.

Wissenstransfer ist sowohl aus ökonomischer als auch aus wissenschaftlicher Sicht ein bedeutender Schrittmacher für den Fortschritt einer Gesellschaft. Ohne die holländischen Dampfbagger zum Bau der Grachten würde es heute keine Eimerkettenbagger und somit keine modernen Tagebaue geben. Die Übermittlung des Wissens ist dabei an sachverständige Personen gebunden. Ein Beispiel hierfür ist Wilhelm Knabe. Bereits während seiner Studienzeit in Tharandt bei Dresden war er seit 1949 Teil einer Umweltinitiative. Nach seiner Flucht in den Westen 1959 und der Erfahrung, dass seine damalige Partei, die CDU, sich von Umweltthemen abwendete, wurde er zum Mitbegründer der Partei Die Grünen. In dieser sorgte er als eher konservativer Vertreter dafür, dass völkisches Gedankengut aus der Partei ausgeschlossen wurde; als Bundestagsmitglied wirkte er wiederum in seine alte Heimat zurück, indem er, gedeckt durch seine diplomatische Immunität, eine Druckmaschine für die Umweltopposition in die DDR schmuggelte. Dieses Vervielfältigungsgerät war Auslöser für die berühmte Razzia des Ministeriums für Staatsicherheit – besser bekannt als „Stasi“ – in der Zionskirche in Berlin, die wiederum wesentlich zur Vernetzung der Opposition in der DDR beitrug. Zusätzlich ist Knabe ein leuchtendes Beispiel für den Wissenstransfer, für den sein Koffer (montan.dok 037000765001) symbolhaft in der aktuellen Sonderausstellung  „Gras drüber … Bergbau und Umwelt im deutsch-deutschen Vergleich“ im Deutschen Bergbau-Museum Bochum steht. Aber welche Geschichte verbirgt sich hinter diesem Koffer? Wie gelangte er ins Museum? Und wieso symbolisiert er Wissenstransfer?

 

Der Koffer – so bezeugt die Beschriftung – stammt von einem „O.St. Arzt“ Dr. med. Kretschmar aus Kirschau, einer kleinen Gemeinde in der Oberlausitz, knapp 10 Kilometer südlich von Bautzen. Das Kürzel verweist auf den Rang als Oberstabsarzt in der nationalsozialistischen Wehrmacht des vormaligen Besitzers. Es handelt sich bei dem Koffer um einen einfachen, mit Vulkanfieber – ein Material aus in Zinkchlorid getränkter Zellulose als Lederersatz – bespannten Reisekoffer, wie er im 20. Jahrhundert üblich war. In Knabes Besitz gelangte er durch die Hochzeit mit Rikarda Kretschmar, Tochter des Arztes. Als Objekt interessant wird er nicht durch seine Art oder die Beschriftung, sondern durch seinen Besitzer Wilhelm Knabe und dessen Nutzung.

 

Knabe war nicht nur ein renommierter Umweltpolitiker, sondern auch ein bedeutender Wissenschaftler, der sich mit Umweltproblemen des Bergbaus beschäftigte. Nach seinem Studienabschluss strebte er eine Promotion an. Hierfür erhielt er die Aufgabe, ein Verfahren zur Rekultivierung von Abraumkippen des Braunkohlentagebaus zu entwickeln, die bis dahin vegetationslos wie Mondlandschaften in der Landschaft standen. Knabe war so erfolgreich, dass die DDR dank seiner Forschungen weltweit führend in diesem Wissenschaftsfeld wurde. So gingen sowohl das allererste Verfahren zur Wiederurbarmachung, das „Schwarzkollmer Verfahren“, als auch die erste industriell umsetzbare Methode, das „Domsdorfer Verfahren“, maßgeblich auf seine Untersuchungen zurück. Seine 1959 publizierte Dissertationsschrift wurde zu einem Standardwerk für die Wiederurbarmachung von Tagebauen im Osten.

 

Der Transfer von Wissen ist meistens mit der räumlichen Bewegung von wissenstragenden Personen verbunden. Entweder wechseln sie selbst oder eine ihrer auszubildenden Personen den Ort der Forschung. Knabe war eine solche wissenstragende Person. 1959 flüchtete er aus der DDR – nach eigenen Angaben, um der Verpflichtung als Reserveoffizier zu entgehen – und siedelte in die Bundesrepublik über. Nun folgte eine internationale Karriere unter anderem als Gastwissenschaftler in den Vereinigten Staaten von Amerika (1962), in England, Wales und Schottland sowie in Frankreich (1964) und Brasilien, bei denen er von seinen Erfahrungen in der Niederlausitz berichtete. Aber auch im deutschsprachigen Raum wirkte Knabe nach seiner Flucht, wovon Lehraufträge zwischen 1963 und 1987 in Berlin, Dortmund, Düsseldorf, Hamburg, Saarbrücken und Wien zeugen. Konkret zeigte sich das am Beispiel der Haldenrekultivierung im Ruhrgebiet. Hier wirkte er 1968 an einer ersten Publikation zum Thema mit. Grundlage für diese Karriere waren Knabes Forschungsunterlagen aus der DDR, die er in dem beschriebenen Koffer über die Grenze schmuggelte. Mehrfach überquerten seine Frau und er hierzu mit Koffer und Kinderwagen die Sektorengrenze in Berlin.

 

Die Sonderausstellung „Gras drüber … Bergbau und Umwelt im deutsch-deutschen Vergleich“ zeichnet Knabes besonderen Lebensweg in Bezug auf den Bergbau, aber auch seine Rolle bei der Gründung der Partei Die Grünen nach. Hierzu werden viele Objekte, wie beispielsweise den beschriebenen Koffer,  aus seinem Nachlass präsentiert, den seine Familie an das Montanhistorische Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau Museum Bochum dauerhaft übergeben hat.

 

01. Juli 2022 (Dr. Martin Baumert)


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 037000765001

 

Baumert, Martin: Forschung und Rekultivierung, in: Farrenkopf, Michael/Göschl, Regina (Hrsg.): Gras drüber… Bergbau und Umwelt im deutsch-deutschen Vergleich. Begleitband zur Sonderausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum im Jahr 2022, Berlin/Boston 2022 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 251; = Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums, Nr. 44), S. 116-127.

 

Baumert, Martin/Grosse-Wilde, Simon/Heinen, Ron-David/Maier, Helmut: Umweltpolitik, Bergbau und Rekultivierung im deutsch-deutschen Vergleich. Das Lausitzer Braunkohlenrevier und das Ruhrgebiet (1949-1989/2000), in: Seibring, Anne (Hrsg.): Abschied von der Kohle. Struktur- und Kulturwandel im Ruhrgebiet und in der Lausitz, Bonn 2021 (= Bundeszentrale für politische Bildung: Schriftenreihe, Bd. 10751), S. 74-87.

 

Knabe, Wilhelm: Zur Wiederurbarmachung im Braunkohlenbergbau. Allgemeine Darstellung des Problems der Wiederurbarmachung und spezielle Untersuchungen im Lausitzer Braunkohlenbergbau, Berlin 1959.

 

Knabe, Wilhelm: Erinnerungen. Ein deutsch-deutsches Leben, Mülheim an der Ruhr 2019.