Verheerende Kräfte: Relikte der Kohlenstaubexplosion im hessischen Borken 1988
Sämtliche wettertechnischen Einrichtungen (montan.dok 030001787000), Wasserhaltungen, Energieversorgungs- und Kommunikationsanlagen waren vollständig zerstört worden. Hinzu kamen zahlreiche Streckenbrüche sowie die Beschädigung der Einrichtungen zur Förderung und Fahrung – so auch die heute in den Musealen Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) verwahrten Doppel-T-Träger einer Einschienenhängebahn (montan.dok 030001786000).
Eine der beiden schon am Folgetag begonnenen Suchbohrungen erreichte nach 48 Stunden ihr Ziel über einem Grubenbau im nördlichen Teil des Ostfeldes. Beim Ziehen des Bohrgestänges vernahmen die an der Bohrstelle anwesenden Personen Geräusche, die als Klopfzeichen aus der Grube gewertet wurden. Dies bestätigte sich beim anschließenden Einsatz eines Richtmikrophons, das ein Reporterteam des Hessischen Rundfunks zur Verfügung stellte. Nach eingehender Beratung beschloss man, einen Suchtrupp zur Rettung möglicher Überlebender einzusetzen. Mit Rücksicht auf den außergewöhnlich langen Anmarschweg kamen hierbei vier Grubenwehrtrupps gestaffelt und mit zusätzlichen Sauerstoff-Selbstrettern ausgerüstet zum Einsatz. Der Rettungsversuch war erfolgreich: Der vorderste Rettungstrupp stieß in einer noch nicht von Explosionsschwaden beeinflussten Pfeilerstrecke im Zielbereich der Suchbohrung auf sechs Überlebende. Diese waren trotz ihres rund 64-stündigen Aufenthalts in ihrem engen Fluchtort in überraschend guter gesundheitlicher Verfassung. Sie wurden nach Anlegen von Sauerstoff-Selbstrettern unversehrt zur Bereitschaftsstelle der Grubenwehr und von dort am frühen Morgen des 4. Juni 1988 binnen etwa einer Stunde mittels eines Rettungskorbes nach über Tage in Sicherheit gebracht.
Streng genommen handelte es sich bei dem Borkener Korb – auch dieser befindet sich heute im montan.dok (montan.dok 030002077001) – nicht allein um einen Rettungskorb. Denn angesichts des hohen Zerstörungsgrades der Grubenbaue und der hohen CO-Konzentrationen nach der Explosion war er zunächst als Anfahrtsmittel für die Grubenwehren entwickelt worden. Für den Zugang zum Grubengebäude boten sich zwei mit Stahl ausgekleidete und mit Steigeisen versehene Wetterbohrlöcher des Bergwerks mit einem Durchmesser von etwa 1,20 m an. Um diese für die Grubenwehren leichter zugänglich zu machen, wurden die Steigeisen entfernt. Aus dem nahegelegenen Kraftwerk der Preußen-Elektra AG funktionierte man sodann zwei korbähnliche Befahrungseinrichtungen derart um, dass sie durch die äußeren Führungsrollen geführt und mit Hilfe eines Portalkrans durch die Wetterbohrlöcher auf- und abgefördert werden konnten.
Begleitet wurden die Rettungs- und Bergungsarbeiten von einem immensen Medieninteresse. Dieses richtete sich im Besonderen auf den Verlauf der Bergungsarbeiten, die Rettung der sechs Bergleute, die Reaktionen der Angehörigen sowie auf die Frage nach der Art der Katastrophe. Ob die Berichterstattung dabei ethischen Grundsätzen des Journalismus gerecht wurde, darf bezweifelt werden. Das zum Teil voyeuristisch anmutende Vorgehen selbst der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ist heute wohl als Reaktion auf die in den 1980er-Jahren zugelassenen privaten Fernsehsender zu interpretieren. Innerhalb der Medien kursierten seinerzeit große Unsicherheiten über die Entwicklung von Marktanteilen. Dass diese einen negativen Einfluss auf die journalistische Selbstkontrolle hatten, zeigte der Fall Borken sehr deutlich.
Die Art der Borkener Explosion wurde nach umfangreichen Untersuchungen durch die zuständigen Behörden, zahlreiche Sachverständige und nach Durchführung von Versuchen und Analysen bei der Versuchsstrecke der Westfälischen Berggewerkschaftskasse in Dortmund-Derne sowie auf der Versuchsgrube Tremonia in Dortmund als reine Kohlenstaub-Laufexplosion bestimmt. Ihr Entstehungsort hatte im Vor-Ort-Bereich einer im Rückbau befindlichen Pfeilerstrecke des Nordfeldes der Grube gelegen.
Eigentliche Explosionsschutzmaßnahmen waren für die Braunkohlengrube Stolzenbach aus fachlichen Gründen vor dem Unglück als nicht erforderlich angesehen worden. So galt die Braunkohlenlagerstätte aufgrund ihrer Geologie als nicht schlagwetterführend. Auch die nachträglichen Untersuchungen schlossen das Auftreten von Methan ebenso aus wie eine Explosion von Brand- bzw. Schwelgasen. Eine Explosionsfähigkeit der in Stolzenbach geförderten Weichbraunkohle galt als ausgeschlossen, weil diese über einen Wassergehalt von 50 % und einen inerten Aschegehalt von 15 % bis 20 % verfügte. Darüber hinaus lag die relative Luftfeuchtigkeit der Wetter in den Abbaurevieren und in den Abwetter führenden Kohlenabfuhrstrecken sogar über 90 %. Deshalb war für die Braunkohlengrube Stolzenbach ein vorbeugendes und abwehrendes Brandschutzkonzept, nicht aber ein Explosionsschutzkonzept vorgeschrieben worden. Erst im Ergebnis der Untersuchungen nach der Katastrophe konnte davon ausgegangen werden, dass im Grubenbetrieb Stolzenbach Braunkohlenstäube mit unterschiedlichen Eigenschaften vorhanden waren. Der durch einen Sprengschuss gezündete Staub hatte offensichtlich über hohe Bitumenanteile und Flüchtige Bestandteile, einen hohen Feinheitsgrad sowie einen Wassergehalt von lediglich 15 % bis 17 % verfügt. Darüber hinaus war im Nachhinein eine ungewöhnlich niedrige Mindestzündenergie ermittelt worden.
Fast anderthalb Jahre später, im Oktober 1989, wurde das von der Staatsanwaltschaft eröffnete Ermittlungsverfahren mit dem Ergebnis eingestellt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten vorlagen. Seitens der hessischen Bergbehörde wurden umgehend Explosionsschutzmaßnahmen für die noch in Förderung befindliche Braunkohlenzeche Hirschberg angeordnet. Sie bestanden in der Einrichtung von Wassertrogsperren, der Anwendung des Gesteinstaubverfahrens und der Verwendung von Wettersprengstoffen. Für die Grube Stolzenbach kamen derlei Auflagen allerdings nicht mehr zum Tragen: Der Bergbau wurde infolge der starken Zerstörungen unter Tage gänzlich eingestellt.
Im nordhessischen Stolzenbach zeugt heute eine Gedenkstätte am ehemaligen Seilfahrtschacht der Grube, die vom Hessischen Braunkohlebergbaumuseum betreut wird, von der letzten verheerenden und leidbringenden „Massenexplosion“ des bundesdeutschen Kohlenbergbaus insgesamt. Im montan.dok sind es hingegen die hier genauer in den Blick genommenen Objekte, die bis zur Einrichtung der heutigen neuen Dauerausstellung auch als Exponate im Deutschen Bergbau-Museum Bochum zu besichtigen waren. Sie sind eindrucksvolle materielle Belege für das hohe Risikopotenzial des untertägigen Bergbaus ebenso wie für das besonders leistungsfähige und solidarische Grubenrettungswesen in Deutschland. Ihre auratische Kraft und ihren musealen Zeugniswert gewinnen sie jedoch erst in Kenntnis der spezifischen Objektgeschichte, um deren Erforschung und Vermittlung sich das montan.dok im Rahmen des Projekts „montan.dok 21“ intensiv und erfolgreich bemüht.
01. März 2021 (Dr. Michael Farrenkopf)
- Literatur
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum 030001786000, 030001787000 und 030002077001
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) U 202: Hessisches Ministerium für Umwelt und Reaktorsicherheit (Hrsg.): Erster Bericht über das Grubenunglück bei der Preußen-Elektra AG, Kraftwerk und Bergbau Borken, Braunkohlenbergwerk Stolzenbach, zur Unterrichtung des Hessischen Landtages (mit 2 Lageskizzen), 8. Juni 1988 (Kopie)
Brandtner, Andreas: Nach der Katastrophe. Das Grubenunglück von Borken. Ein Erfahrungsbericht über drei Jahre psychosoziale Hilfe, hrsg. v. d. Arbeitsgruppe Stolzenbachhilfe, Göttingen 1992.
Farrenkopf, Michael: Grubenunglück Stolzenbach 1988 – Über eine Sonderausstellung in Borken, in: DER ANSCHNITT 60, 2008, S. 178-181.
Farrenkopf, Michael: „Zugepackt – heißt hier das Bergmannswort“. Die Geschichte der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen im Ruhrbergbau, unter Mitarbeit von Susanne Rothmund, Bochum 2010 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 178; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 22).
Franz, Harald: Die Ursachen des Grubenunglücks im Braunkohlentiefbau Stolzenbach, in: Glückauf 126, 1990, S. 52-55.
Hempler, Ulf: Das Grubenunglück von Stolzenbach: Die angekündigte Katastrophe und das fast verhinderte Wunder, Norderstedt 2015.
Kroker, Evelyn/Farrenkopf, Michael: Grubenunglücke im deutschsprachigen Raum. Katalog der Bergwerke, Opfer, Ursachen und Quellen, Bochum, 2. Aufl. 1999 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 71; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 7), S. 535 f., S. 612 f.
Mathes, Rainer/Gärtner, Hans-Dieter/Czaplicki, Andreas: Kommunikation in der Krise: Autopsie eines Medienereignisses. Das Grubenunglück in Borken, Frankfurt am Main 1991 (= Kommunikation heute und morgen, hrsg. v. Institut für Medienentwicklung und Kommunikation GmbH in der Verlagsgruppe Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH).
Slotta, Rainer/Farrenkopf, Michael: Das Kupfer- und Golderzbergwerk San José und das Grubenunglück, in: Slotta, Rainer/Schnepel, Inga (Hrsg.): Schätze der Anden – Chiles Kupfer für die Welt. Katalog der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, 8. Mai 2011 bis 19. Februar 2012, Bochum 2011, S. 387-406.